Kirche am toten Punkt? Das ist zu Ostern eine gute Nachricht, sagt Henning Dobers. Denn wo menschlich nichts mehr geht, lassen wir hoffentlich Gott ans Werk.
Erinnern Sie sich? Vor einem Jahr veröffentlichte Reinhard Kardinal Marx eine Presseerklärung, die wie ein Paukenschlag im Land dröhnte. Speziell im Zusammenhang mit der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen und anderen in der katholischen Kirche „leiden“-schaftlich diskutierten Themen sprach er vom toten Punkt, an dem die Kirche angekommen sei. Aus seiner Sicht bedarf es einer grundsätzlichen Erneuerung der Kirche, die mit einer Neubewertung des Amtes beginnen muss. Er selbst wollte ein deutliches Zeichen setzen und bat den Papst, als Erzbischof von München und Freising zurücktreten zu dürfen.
Die Antwort aus Rom ließ im Unterscheid zu sonst nicht lange auf sich warten: Nein. Er solle als Bischof weitermachen. Auch das war eine Art Punkt. Roma locuta. Causa finata.
Die Kirche als Ganzes ist am toten Punkt …
Das ist jetzt knapp ein Jahr her. Das Votum von Kardinal Marx galt der speziellen innerkatholischen Situation – und die ist dramatisch. Dennoch kann man die Rede vom „toten Punkt“ gut auf die gesamtkirchliche Lage der großen Kirchen und mancher Freikirchen in Deutschland übertragen. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik werden die Mitgliedszahlen der Volkskirchen in diesem Jahr wohl unter 50 Prozent rutschen. Von lokalen oder regionalen Ausnahmen abgesehen wird die Kirche gesamtgesellschaftlich zunehmend irrelevant. Sie kommt im Lebensalltag der meisten Menschen nicht (mehr) vor, ihre Voten werden auch bei großen gesellschaftlichen Themen von der Öffentlichkeit nicht (mehr) wahrgenommen.
… und dreht sich weiter um sich selbst
Derweil sind wir als Kirche stark mit uns selbst beschäftigt, um die ökonomischen und sozialen Auswirkungen dieser Entwicklung innerkirchlich zu bewältigen. Diese Selbstbeschäftigung und der Versuch, sich aus sich selbst heraus zu reformieren, bindet enorm viele Kräfte, macht die Kirche für Berufsanfänger unattraktiv und fördert den Frust der noch verbliebenen Engagierten.
Gott ist der Experte für Auferstehung – nicht wir!
Jetzt kommt die gute Nachricht: Bei Gott gibt es ein Ostern. Ostern gilt für Jesus, es gilt für jeden, der an ihn glaubt. Und es gilt auch für die Kirche.
Ein toter Punkt ist keine Katastrophe im Reich Gottes. Im Gegenteil: Er ist eine Chance zum ehrlichen Innehalten und zur Bereitschaft, sich von Gott (nicht aus eigenen Anstrengungen heraus!) erneuern zu lassen. Jesus ist ein Experte beim Thema Wiederbelebung. Er hat es bei Lazarus und anderen bewiesen. Er hat es am eigenen Leib erlebt. Er kann es auch heute noch machen.
Gott kann
Ostern bedeutet: Nichts ist vorbei, bis Gott sagt, dass es vorbei ist. Gott kann aus jedem Punkt einen Doppelpunkt machen. Gott kann aus jedem Punkt ein Komma machen. Und Gott kann aus jedem Punkt ein Fragezeichen oder ein Ausrufezeichen machen. Wir sollten keinen Punkt setzen, wenn Gott ein Komma setzt.
Beten – und Gott erlauben, einzugreifen
Wir sollten ihm erlauben, unsere Zeichensetzung zu korrigieren und die Ursachen dahinter zu heilen. Dafür müssen wir uns ihm hinhalten und um neues Leben, neue Freude, neue Kraft bitten. Nur wenn wir Gott erlauben, unsere wunden Punkte in der Geschichte und in der Theologie der Kirche zu berühren, können Wendepunkte daraus werden. Und nur, wenn wir Gott an unsere toten Punkte heranlassen, können Doppelpunkte daraus werden. Nichts ist vorbei, bis Gott sagt, dass es vorbei ist. Ostern ist ein sehr guter Zeitpunkt dafür.
Ja, so ist es!
Wir können uns nicht einfach damit abfinden, dass die Kirchen in Mitteleuropa immer mehr zu einer gesellschaftlich bedeutungslosen Randgruppe werden. Da helfen nur Stärkung von Glaubwürdigkeit und Übezeugung – wie Paulus schon vor 2000 Jahren schrieb: „Ein jeder sei so gesinnt, wie Christus Jesus es war!“ (Phil 2,5).
Also: Weder unkritische Anpassung an den gerade aktuellen (!) Zeitgeist noch stures Beharren auf sinnlos gewordenen Traditionen… entscheidend ist nicht (nur), was Christus „in jener Zeit“ gesagt hatte, sondern was er – auf Basis der Evangelien – HEUTE sagen würde! Der Marxismus war auch deshalb eingegangen, weil er starr nur Marx ZITIERTE, wie der brailianische Erzbischof Helder Camara zutreffend anmerkte.
Insbes. für die EKD bedeutet das, dass sie spiritueller werden, also – im Managerdeutsch- sich mehr auf ihre „Kernkompezenz“ konzentrieren müsste, anstatt sich in Aufgaben reinzuhängen, die Parteien oder Gewerkschaften ebensogut oder besser erledigen können.
Interessanter Beitrag! Nach meiner Wahrnehmung sind die großen Kirchen mittlerweile vielen Menschen gleichgültig geworden. Weil viele den Kirchen in manchen Dingen genau die Kompetenz absprechen, für die die Kirchen antreten: Für ein besseres Leben. Wer Schwierigkeiten und Skandale nicht ehrlich aufarbeitet, wer sich mit sich selbst beschäftigt, statt seinem eigentlichen Auftrag zu folgen, muss sich nicht wundern, dass eine (scheinbar fast) ausschließlich auf Traditionen gebaute Institution ihre Bedeutung für die Menschen verliert. Diese Entwicklung ist schon lange zu beobachten. Tradition ist nichts Schlechtes – aber ohne inhaltlichen Kern ist sie lediglich Silhouette ohne Substanz.
Aber wer sind diese anonymen Institutionen, die zu kritisieren wären? Kirche besteht zuerst nicht aus Gebäuden, sondern aus Menschen wie Du und ich. Hauptamtliche, Nebenamtliche, Ehrenamtliche. Ich habe selbst ehrenamtlich mitgearbeitet und tue es noch. Ich fasse mich hier auch an die eigene Nase, weil auch ich ein Teil von Kirche bin. Wenn sich in und an Kirchen etwas ändern soll, muss es mit den Menschen geschehen – insbesondere in den Leitungsfunktionen der Organisation und der Gemeinden. Solange Kirchenfinanzen, Öffentlichkeitsarbeit, politische Statements (alles fraglos wichtig!) eine größere Rolle spielen als Gott, als Jesus, als der Heilige Geist, solange die Kernaufgaben der Mission und der Diakonie als Nebenbaustellen bearbeitet werden, solange von Kanzeln mehr politischer Aktionismus gepredigt wird, statt zur Nachfolge Jesu einzuladen – solange stimmen die Prioritäten nicht.
Wir brauchen in der Kirche mehr Jesus, mehr Heiligen Geist, mehr Gott. Mehr ehrliche, authentische Einladung zum Glauben. Mehr Beziehung zu Gott und untereinander. Mehr echte Gemeinschaft. Mehr Vernetzung horizontal zu anderen Kirchen, Gemeinden, Kofessionen und Denominationen – über Grenzen hinweg. Und vor allem mehr Beziehung vertikal zum Dreieinigen Gott im Gebet. Wenn wir wieder anfangen, Jesus wirklich zum Gottesdienst einzuladen (ja, das meine ich so), wenn Er in den Kirchenvorständen, Kirchenkreisen und Synoden und anderen Gremien seinen festen Platz hat – nicht nur in Form eines in der Tagesordnung vorgesehenen Kurzgebetes – wenn Er in den Menschen, die Kirche sind, lebt – dann kann auch der Glaube wieder auferstehen. Dann kann Ostern werden – und vielleicht auch Pfingsten.