Mut zur Wahrheit: Joachim Gauck beeindruckt am Reformationstag

Altbundespräsident Joachim Gauck fordert neuen Mut zur Wahrheit: Henning Dobers war bei seinem Vortrag in Hann. Münden dabei.

Joachim Gauck am Reformationstag 2023 in der St. Blasius-Kirche in Hann. Münden

Fotos: Holger Gruber

Das Thema könnte aktueller nicht sein: „Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“ heißt das jüngste Buch von Altbundespräsident Joachim Gauck. Die Reaktionen, Verkaufszahlen und die beeindruckende Zahl an Vortragsreisen des 83-Jährigen zeigen, wie sehr Joachim Gauck das Thema am Herzen liegt und wie sehr er Menschen aus dem Herzen spricht. So geschehen am 31. Oktober in Hann. Münden, in der überfüllten St. Blasius-Kirche. Seit einigen Jahren laden die evangelischen Kirchen hier, immer am Reformationstag, gemeinsam zu einem gesellschaftsrelevanten Vortrag ein.

Joachim Gauck trifft den richtigen Ton, auch in Hann. Münden: Er ist im Herzen Pastor geblieben, spricht aber nicht pastoral. Er hat politisch viel bewirkt, tritt aber nicht als Politiker auf. Die Atmosphäre vor Ort war so dicht, dass er seine Redezeit locker überzog, ohne dass ihm das jemand im Geringsten übelnahm. Und das, obwohl manche zwei Stunden gestanden hatten, weil es keine Sitzplätze mehr gab.

Gauck lebt den Mut zur Wahrheit

Wo er auftritt, kleben die Menschen regelrecht an seinen Lippen. Er spricht gut begründet, ruhig und mit einer gewissen (groß)väterlichen Autorität aus, was viele diffus spüren, aber nicht in Worte fassen können. Offensichtlich besteht ein großer Bedarf im Land, Dinge beim Namen zu nennen, die schon lange bekannt sind, aber bisher allzu oft einer politischen Korrektheit zum Opfer gefallen sind.

Hinsehen ohne ideologische Filter

Joachim Gauck räumt auf. Ruhig, unerschrocken, fundiert, leidenschaftlich. Als jemand, der mehr als 40 Jahre lang persönlich von Diktatur und Freiheitsberaubung in der DDR betroffen war, entlarvt er ideologische Filter in unserer Zeit. Er öffnet die Augen für offenkundige Wirklichkeitsverweigerung. Er rüttelt wach in einem Land, in dem sich massenhaft sozialromantisch Gewordenes angesammelt hat. Dazu zählen:

  • eine seit 2015 nahezu ungebremste Migration aus Ländern mit mehrheitlich muslimischem Hintergrund (mit allen Folgen, die das hatte und hat – hochaktuell vor dem Hintergrund des Krieges in Israel),
  • ein gestörtes Identitätsverhältnis zur eigenen Nation,
  • ein diffus-schwärmerisches Russlandverständnis inklusive des Baus der Nord-Stream-2-Pipeline und einer geradezu verstockten Weigerung, Warnungen befreundeter Nationen im Ostseeraum ernst zu nehmen,
  • ein naiver und schwärmerischer Pazifismus insbesondere in weiten Teilen der Evangelischen Kirche des Westens, der sowohl der damaligen Oppositionsbewegung im Osten Europas in den Rücken fiel als auch die autoritären kommunistischen Regime stärkte,
  • eine Vernachlässigung der Pflege und Wertschätzung der Fundamente von Demokratie und bürgerlichem Engagement,
  • die falsche Annahme, dass Frieden, Freiheit und Wohlstand automatisch funktionieren und nicht aktiv gepflegt und verteidigt werden müssen.

Pazifismus ist nur was für Privatleute

Gauck respektiert privat gelebten, christlich begründeten Pazifismus, betont aber, dass dies angesichts des real existierenden Bösen keine Handlungsoption für den Staat sei. Spätestens seit dem Überfall Putins auf die Ukraine, dem Pogrom der Hamas an Juden in Israel und den Jubelfeiern darüber in Deutschland und anderswo müsste das jedem klar sein. Aber es hätte schon seit 2014, seit der russischen Annexion der Krim, klar sein müssen. Immer wieder betont er: Wir wussten das alles, wir sahen das alles, aber wir wollten es nicht wahrhaben und nicht sehen.

Gauck hat Autorität, denn er kann detailreich, entlarvend und erschütternd die Denke, Strategie und Taktik des sowjetischen Geheimdienstes in Gestalt seines Vertreters Wladimir Putin beschreiben. Es geht um Menschenverachtung, rücksichtlose, mörderische Diktatur und eiskaltes Machtstreben. Wer dem mit naivem Pazifismus begegnen will, habe nicht verstanden, dass auch das Hitler-Regime nur mit immensem Einsatz von Waffen und Soldaten seitens der Alliierten besiegt wurde.

Joachim Gauck am Reformationstag 2023 in der St. Blasius-Kirche in Hann. Münden

Zeitenwende: Wir alle müssen demokratisch Position beziehen

Bei Joachim Gauck in Hann. Münden geht es, wie andernorts, um eine Zeitenwende – jeder hört es, obwohl das Wort nicht fällt. Gauck benennt konkret, was das bedeutet, und nimmt ausnahmslos jeden in die Pflicht, sich nicht wegzuducken, sondern sich aktiv in einer demokratisch-freiheitlichen Haltung zu positionieren. So gesehen haben „Erschütterungen“ – wie im Titel von Gaucks Buch – auch ihr Gutes. Aber nur, wenn wir mutig und beherzt Konsequenzen daraus ziehen.

Erschütterungen zeigen, wie es ums Fundament steht

Während meiner Lektüre des Buches und während des Vortrages dachte ich immer wieder an den Schluss der berühmten Bergpredigt Jesu:

„Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet. Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein und sein Fall war groß. Und es begab sich, als Jesus diese Rede vollendet hatte, dass sich das Volk entsetzte über seine Lehre; denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten.“ (Matthäusevangelium, Kap. 7, V. 24-29)

Erschütterungen offenbaren, wie stabil ein Fundament ist und wie die Aufbauten damit verbunden sind. Ich dachte auch an das Verhalten des ägyptischen Pharaos angesichts der zehn Plagen im 2. Buch Mose (Kap. 7-12). Der Pharao verhärtete sein Herz und in der Folge wurde es von Erschütterung zu Erschütterung schlimmer.

Wir heute können es anders machen: mit Mut zur Wahrheit; mit einer offenen Gesprächskultur, die sich nicht nach Ideologien richtet; mit Demut und der Bereitschaft zu Umkehr und Korrektur. Dafür brauchen wir inspirierende Vorbilder, die uns ermutigen und die vorangehen. Joachim Gauck ist so ein Vorbild.


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Henning Dobers

Henning Dobers ist Pfarrer und 1. Vorsitzender der GGE Deutschland.

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