Heute feiern wir 34 Jahre Deutsche Einheit. In einem „Ost-West-Talk“ spüren Astrid Eichler, Holger Bartsch und Henning Dobers im Gespräch mit Eva Heuser der Stimmung im Land nach. Was macht Hoffnung, wofür können wir beten?
Die Talkrunde:
Astrid Eichler ist 1958 in Ludwigslust (Mecklenburg) geboren. Die gelernte Krankenschwester ist evangelische Theologin und Autorin und war 1988 bis 2004 Pfarrerin in der Prignitz (Brandenburg), danach Gefängnisseelsorgerin in Berlin. Als Gründerin des Netzwerks Solo&Co setzte sie sich bundesweit für Lebensperspektiven christlicher Singles ein.
Holger Bartsch, geboren 1969 in Annaberg-Buchholz (Sachsen) und gelernter Schlosser, studierte nach der Wende Theologie und wurde evangelischer Pfarrer. Seit März 2022 ist er Pfarrer für die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025, davor war er Jugendpfarrer im Kirchenbezirk Chemnitz. Er ist Mitglied im Vorstand der GGE Deutschland.
Henning Dobers, 1966 in Walsrode (Niedersachsen) geboren, studierte Theologie in Krelingen, Erlangen, Tübingen und Marburg und ist evangelischer Pfarrer im Kirchenkreis Göttingen-Münden. Von 2011 bis 2023 war er 1. Vorsitzender der GGE Deutschland, bis heute ist er Geschäftsführer der GGE. Sein Herz schlägt für Vernetzung und Ökumene. Er wohnt dicht an der thüringischen Grenze und fühlt sich dem Osten Deutschlands herzlich verbunden.
Die jüngsten Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg haben es wieder gezeigt: Die Ostdeutschen wählen auffällig anders als die Westdeutschen. Was fällt euch dazu ein?
Holger: Ein großer Teil der Bevölkerung im Osten ist schon diktaturgeprägt, sowohl in der Kommunikation als auch in bestimmten Denkweisen und Vorstellungen von der Gesellschaft. Wenn Menschen sich dann fragen, „was geschieht mit unserem Land und was ist zu tun?“, greifen sie nicht auf christliche Vorstellungen von Konfliktlösung, Barmherzigkeit und Vergebung zurück. Sondern sie schöpfen aus dem, was sie aus DDR-Zeiten kennen. Das BSW [das im Januar 2024 als Partei gegründete „Bündnis Sahra Wagenknecht“, Anm. d. Red.] ist meiner Meinung nach die politische Seite der DDR-Nostalgie. Einflüsse von vor 1989 sehe ich bei BSW und AfD ganz deutlich. Viele Menschen haben auch ein Bedürfnis zu zeigen, dass im Osten nicht alles so sein muss wie im Westen.
Astrid: Der Osten ist anders. Er hat eben nicht die Tradition von CDU, SPD, FDP. Dass die FDP im Osten nicht landen kann, überrascht mich nicht. Es gibt hier nicht auf diese Weise „reiche Leute“ wie im Westen. Was im Westen selbstverständlich ist, ist es im Osten nicht, und was im Westen nach 1945 über viele Jahrzehnte gelernt und eingeübt wurde, ist im Osten in den vergangenen 30 Jahren nicht nachgeholt und implantiert worden.
Henning: Joachim Gauck [Bundespräsident a.D. und aus Rostock stammend, Anm. d. Red.] betont immer wieder: Freiheit ist auch anstrengend und immer wieder miteinander zu reden kann
ganz schön herausfordernd sein. Als jemand, der komplett westlich sozialisiert ist, sage ich: Uns im Westen steht es gut an, erst einmal den Mund zu halten und zuzuhören und nicht gleich anderen die Welt zu erklären. Mehr Gelassenheit und weniger Empörung. Zweitens ist unsere Welt unübersichtlich und kompliziert geworden und da neigen wir Menschen zu einfachen Lösungen – zufällig zeigt sich das jetzt im Osten so. Die AfD vermittelt, „vertraut uns, wir machen das schon“, und diese Botschaft kommt an. Das sind Kommunikationsprofis. Drittens fällt auf, dass die AfD gegenwärtig zu großen Teilen von Jüngeren gewählt wird. Möglicherweise ein Gegentrend zur allseits propagierten Multikulti-Gesellschaft und wohl auch Teil des globalen Trends hin zum „new conservatism“.
Astrid: Joachim Gauck hat auch sinngemäß gesagt, dass der Mensch ein Recht auf Heimat hat. Die Globalisierung, so ein Geschenk sie ist, ist aber auch nicht „ohne“ für die Menschen
„Ich höre aus Gesprächen mit jungen Leuten heraus, dass es ihnen um Sicherheit geht. Sie sorgen sich, was wird denn hier?“ – Holger Bartsch
Weil vor allem Jüngere ohne DDR-Biografie die AfD wählen, kann von einem direkten Rückgriff auf die eigene Vergangenheit ja nicht die Rede sein.
Holger: Nein, aber das wird in der Familie weitergegeben. Wir kennen es auch aus der Seelsorge – das vererbt sich, auch die ideologischen Vorstellungen. Ich höre aus Gesprächen mit jungen Leuten heraus, dass es ihnen um Sicherheit geht. Sie sorgen sich, was wird denn hier? Man kann sagen, dass die AfD gut mit Jugendlichen kommunizieren kann. Ich würde es anders beschreiben: Immer, wenn ein Problem auftaucht wie zum Beispiel jetzt das Thema Sicherheit und ungeregelte Migration, sagt die AfD, „wir müssen jetzt ganz radikal das und das machen“. Dann sagen CDU, SPD oder Grüne, „das geht nicht, weil es gegen EU-Recht verstößt, oder wegen diesem oder jenem“. Das heißt, es gibt eine „Lösung“ als auch die Verneinung dieser „Lösung“. Und dann wenden sich die Jugendlichen der vermeintlichen Lösung zu. Die Jugendlichen sind aber keineswegs einfach Verführte, die auf den Populismus hereingefallen sind. Die können nachdenken, die sehen viel von der Welt, die informieren sich breit. Die Analyse muss tiefer geschehen.
Die Neue Zürcher Zeitung hat nach der Thüringen- und Sachsenwahl geschrieben: „Die Ostdeutschen mit ihrer größeren Distanz zu Eliten und Parteien haben ein feines Gespür für erodierende Glaubwürdigkeit.“ Sind Ostdeutsche damit bessere, weil radikalere Demokraten?
Holger: Sie sind nicht die besseren Demokraten. Ostdeutsche haben eine andere Vergangenheit und die ist nicht im Licht. Die ist nicht aufgearbeitet oder reflektiert. Wir standen 40 Jahre unter dem Einfluss des Sowjetkommunismus und des KGB und in diesen Wahlen zeigt sich die Frage nach der Ost- oder der West-Bindung. Dazu kommt die globale Frage: Kann Deutschland neutral sein? Die Friedensfrage ist ja neben der Migrationsfrage ein Riesenthema hier im Osten.
„Wir sind ein Sandwich-Land in der Mitte Europas. Das ist, glaube ich, auch unsere geistliche Berufung von Gott: innerhalb Europas Versöhnung zu leben – was nur durch Jesus geht.“ – Henning Dobers
Was wäre zu tun, wenn hier Vergangenheit nicht aufgearbeitet ist?
Holger: Es ist eine Versöhnung Richtung Westen nötig. Die Bomber auf Dresden, die sind in den 80er-Jahren von Ost-Historikern als „imperialistischer Terror“ bezeichnet worden … Dass das schrecklich war, stellt niemand infrage. Wir Ostdeutschen müssen aber endlich miteinander reden, und zwar die, die systemtragend waren und 1989 eine große Enttäuschung erlebt haben, und die, die sich mehr oder weniger zu Recht als historische Sieger fühlen können. Damit stehe ich aber ein bisschen allein.
Henning: Ich habe gelesen, dass die härtesten Debatten inneröstlich sind. Der Engländer James Hawes hat in seinem Buch „Die kürzeste Geschichte Deutschlands“ die Frage gestellt, wo die Grenze zwischen Ost (Slawen) und West (Germanen) historisch verläuft? Er sagt, dass das seit 2000 Jahren eine offene Frage ist. Und wir sind ein Sandwich-Land in der Mitte Europas. Das ist, glaube ich, auch unsere geistliche Berufung von Gott: innerhalb Europas Versöhnung zu leben – was nur durch Jesus geht.
Holger: Allgemein ausgedrückt sind es die christlichen Traditionen, die dieses Land allein einen können, auch Ost und West allein verbinden können. Das Land braucht Jesus und es braucht die biblischen Geschichten, die uns den Weg weisen.
Astrid: Mir ist auch wichtig zu sagen, dass die Geschichte zwischen Ost und West weder 1989 angefangen hat noch 1961 noch 1945, sondern viel, viel, viel älter ist. Aus der Vergangenheit und der Gegenwart kommt da etwas zusammen, das uns in unterschiedlichen Kulturen mit unterschiedlichen Selbstverständnissen leben lässt. Das hat sich entwickelt und wurde in verschiedenen Epochen, und gerade in den 40 Jahren der deutschen Teilung, verfestigt. Die ehemalige DDR war ganz stark im östlichen Kulturraum verankert und damit rede ich noch nicht einmal von Ideologie, Weltanschauung, KGB (das ist ja noch ein ganz anderes Kapitel), sondern wirklich von der Kultur, dieser Schwere des Osteuropäischen. Der Westen wiederum war ganz stark unter westlich-amerikanischem Einfluss. Und das hat euch völlig anders geprägt! Olaf Georg Klein hat diese unterschiedlichen Kulturräume in seinem Buch „Ihr könnt uns einfach nicht verstehen“ beschrieben. Das fand ich sehr überzeugend. Ich glaube auch, dass es im Kern um Versöhnung geht.
Henning: So ist es!
Astrid: Ende der 1980er-Jahre initiierte Friedrich Aschoff, damals Vorsitzender der GGE, die Versöhnungswege an Orte, wo die Deutschen während des Zweiten Weltkrieges schreckliche Verbrechen begangen hatten. Und Gruppen der GGE gingen diese Versöhnungswege in den 90er-Jahren. Jetzt ist der Mauerfall 35 Jahre her und was es braucht, ist Versöhnung in ganz verschiedenen Dimensionen. Ich frage mich schon lange: Wo sind dafür die Menschen? Wie kann der Auftrag empfangen und angenommen werden? Wie kann das gehen? Ohne einfaches „Nachmachen“ und ohne, dass es irgendwen über den Tisch zieht. Das braucht viel Sensibilität, das braucht Zeit. Es geht dabei nicht darum, dass der Osten wird wie der Westen oder der Westen endlich begreift, dass die Ossis recht haben, sondern es geht darum, dass wir uns versöhnen. Wer kann das machen? Das können nur wir als Christen, weil wir letztlich wissen, was Versöhnung ist.
Holger: Ich sehe das und fühle da ganz genauso. Das Thema Versöhnung ist in Chemnitz ganz groß, zusammen mit den Freikirchen und Katholiken haben wir 2017 zum Reformationsjubiläum im Rahmen eines Versöhnungstages Unglaubliches erlebt. Wir haben jetzt den „Runden Tisch Versöhnung“ gestartet und in meiner jetzigen Position [als ev. Pfarrer für die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025, Anm. d. Red.] will ich am 4. Oktober 2025 zu einem Forum für europäische Versöhnungsinitiativen nach Chemnitz einladen. Dahinter steht genau das, was Astrid gesagt hat – denn Versöhnung ist hier im Osten ja völlig unbekannt. In der Bundesrepublik gab es zum Beispiel eine deutsch-französische Aussöhnung, aber hier noch gar nichts!
„Was es braucht, ist Versöhnung in ganz verschiedenen Dimensionen. Ich frage mich schon lange: Wo sind dafür die Menschen? Wie kann der Auftrag empfangen und angenommen werden?“ – Astrid Eichler
Welche Initiativen sind das? Mir fällt Gerhard Proß und „Miteinander für Europa“ ein.
Holger: Genau. Wir sind noch dabei, eine Liste zu erstellen. Im Kleinen gibt es da schon was, zum Beispiel in Thüringen die „Reinhardsbrunner Gespräche“ der lutherisch-mennonitischen Versöhnung. Dann gehen hier auf katholischer Seite mehrere Werke in dieselbe Richtung. Wir laden anlässlich des europäischen Kulturhauptstadtjahres Chemnitz 2025 in die Stadt ein, die von der Unversöhnlichkeit des Klassenkampfes bis heute geprägt ist: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ steht hinter dem monumentalen Karl-Marx-Kopf – denkmalgeschützt, repräsentativ.
Astrid: In welchem Bereich setzen sich diese Werke für Versöhnung ein?
Holger: Ich kann mir auch vorstellen, „Aktion Sühnezeichen“ einzuladen und es nicht auf Werke zu beschränken, die rein „geistlich“ unterwegs sind. Letzten Endes haben die meisten, die sich mit Versöhnung beschäftigen, aber christliche Wurzeln. Wir brauchen deutsch-französische Initiativen, deutsch-polnische, deutsch-tschechische – letzteres ist noch ein blinder Fleck. Das muss mit der Vertreibung der Sudetendeutschen und der Ansiedlung von fremden Menschen, unter denen viele Sinti und Roma waren, zu tun haben. Entlang der tschechischen Grenze zu Deutschland gibt es Menschen, die sich in vielerlei Weise unwohl und fremd fühlen.
Astrid: Das Thema Heimat und Sich-fremd-Fühlen ist für mich auch ein Hauptwort in den Beziehungen zwischen Ost und West. In den alten Bundesländern habe ich mich ganz oft fremd gefühlt. Und ich glaube, dass Ossis mit so einer Wahl auch dagegen ankämpfen, sich in ihrer Heimat fremd zu fühlen. Die Sehnsucht nach der Heimat ist zutiefst menschlich, sie gehört zu uns und ist auch von Gott in uns gelegt. Das Problem ist nur, wenn das ohne Gott in die falsche Richtung geht. Dann wird es Sünde.
Henning: Der Westen ist in direkter Folge der „außerparlamentarischen Opposition“ (APO) seit Ende der 1960er-Jahre durch eine eher linksliberale, grün-alternative Politik geprägt und da ist Heimat „igittigitt“, etwas Schlechtes und gilt automatisch als verdächtig und gleich „rechts“. Multikulti in Berlin-Kreuzberg, das galt als erstrebenswertes Paradies – und jetzt merkt man, dass das nicht funktioniert. Ich glaube, dass Menschen im Osten noch eine Empfindung dafür haben, dass da etwas nicht in Ordnung ist. Und die AfD benutzt diese Verletzung für ihre ideologischen Zwecke. Es ist so etwas wie ein neuer Missbrauch.
„Für mich war eine wesentliche Selbsterkenntnis, dass ,wir Ostdeutschen‘ noch lange nicht zustimmen, nur weil wir nicht widersprechen.“ – Holger Bartsch
In der BRD sind auf höchster politischer Ebene Schritte zur Aussöhnung gegangen worden, zum Beispiel von Willy Brandt Richtung Polen oder von Konrad Adenauer und Helmut Kohl Richtung Frankreich. Der Osten Deutschlands hat all das nicht mitgemacht. Bleibt da ein Schaden, der noch zu heilen wäre?
Holger: Mangelnde Versöhnung ist immer ein Schaden. Ich weiß nicht, ob im Westen die Versöhnung wirklich so tiefgreifend war, sie hatte aber auf jeden Fall eine politische Dimension erreicht, die wir hier im Osten nicht kennen. Jetzt davon zu sprechen, wir müssten da noch etwas „nachholen“, finde ich aber auch seltsam.
Astrid: Ich denke, dass Versöhnung etwas ganz Spezifisches und zutiefst Christliches ist. Und ich glaube nicht, dass wir das an staatliche Stellen delegieren können. Wo aber Christen in der Versöhnung „ihren Job machen“, wird in der unsichtbaren Welt ein Weg bereitet und etwas freigesetzt, das von staatlichen Stellen dann auch äußerlich sichtbar und mit politischer Autorität ausgedrückt werden kann.
Holger: Das möchte ich genau so unterstreichen. Und da spielen dann die Versöhnungswege oder die Partnerschaften über Grenzen hinweg eine Rolle.
Henning: Deshalb auch die Gebetswanderungen in den letzten Jahren, auch an der innerdeutschen Grenze. Gott wird unser Gebet erhören. Immer und immer wieder zu beten, das ist unser Job. Es geht um eine Veränderung der Atmosphäre durch Gebet.
Und deshalb auch der jüngste GGE-Versöhnungsweg in die Ukraine … Für Versöhnung ist auch Verständigung elementar. Welche „Bildungslücken“ und Klischees halten sich hartnäckig zwischen Ost und West? Worüber ich neulich lachen musste: Dass viele im Westen denken, Björn Höcke sei ein Rechtsextremer aus Thüringen. Dabei ist er in Rheinland-Pfalz aufgewachsen und war bis 2014 in Hessen.
Holger: Für mich war eine wesentliche Selbsterkenntnis, dass „wir Ostdeutschen“ (auch wenn wir nicht alle gleich sind) noch lange nicht zustimmen, nur weil wir nicht widersprechen. Das kann für einen Westdeutschen verwirrend sein. In Gremien habe ich erlebt, dass einer aus dem Westen seine Meinung gesagt und gedacht hat, dass alle einverstanden sind, nur weil keiner etwas gesagt hat. Das muss nicht so sein, da muss nachgefragt werden.
Astrid: (nickt) Schweigen ist nicht Zustimmung.
Henning: Da braucht es Kulturdolmetscher, die einem das erklären. Sonst weißt du das nicht.
Astrid: Ja, und dafür braucht es die Bereitschaft wahrzunehmen, dass der andere anders ist. Den Westdeutschen als der Mehrheit auch mal fröhlich zu signalisieren, dass ich als Teil der ostdeutschen Minderheit eine Situation ganz anders erlebe oder mich fremd fühle. Natürlich waren 1990 erstmal alle neugierig auf den Westen und es war selbstverständlich, dass wir den Westen überrollt haben. Aber warum sind die Leute im Westen nicht auch neugierig auf uns gewesen?
Holger: Ich kenne eine ganze Reihe von Menschen, die aus dem Westen nach Chemnitz gekommen sind und seit 30 Jahren hier leben und arbeiten. Meistens haben sie Eliteposten als Staatsanwalt, Jurist und so weiter … und da bilden sie schon fast eine Art Subkultur, habe ich gemerkt. Dennoch kann man von ihnen nicht mehr als „Wessis“ sprechen. Das ist sowieso ein doofes Klischee. Sie sind hergekommen, so wie viele von uns ’rübergegangen sind. Sie bringen sich hier ein und sind gern hier. Das ist super.
Henning: Ein Klischee wäre zum Beispiel: „Im Eichsfeld schmeckt die Wurst besser.“ Wir sind in Hannoversch Münden ja direkt an der Grenze zu Thüringen, 20 Kilometer weiter ist das Eichsfeld. Ich kenne einige Leute, die sich beruflich nach 1990 bei uns angesiedelt haben. Aber wenn sie eine gute Wurst wollen, fahren sie in die alte Heimat, nach Heiligenstadt oder Mühlhausen. Das schmeckt nach Heimat.
(Alle lachen).
Astrid: Da sind wir wieder bei Heimat.
Henning: Genau. Dann ist mir noch etwas aufgefallen. Freunde aus dem Osten, die schon einige Jahrzehnte in Niedersachsen leben, haben in der Coronazeit gesagt, „warum vertraut ihr eurer Regierung so? Ihr im Westen. Fragt doch mal nach!“ Ich habe gesagt, „die werden das schon richtig machen“. Auf den Gedanken wäre ich nie gekommen!
„Ja, der Boden war schlecht, aber ich habe in der DDR auch einen christlichen Glauben erlebt, der dem biblischen Glauben näher war als im Westen.“ – Astrid Eichler
Eine Freundin aus einer Pastorenfamilie im Osten hat mir vor Jahren gesagt, dass sie wahrscheinlich eher schweigsam ist, weil sie mit dem Satz aufgewachsen ist, „sei vorsichtig und pass auf, was du sagst“. Was das bedeutet, davon haben wir im Westen keine Idee mehr.
Astrid: Gleichzeitig ärgere ich mich, wenn ich empfinde, dass Leute aus dem Westen bei der DDR nur an Schießbefehl, Stasi und Mauer denken und überhaupt keine anderen Bilder haben, für das, was unser Leben ausgemacht hat. Das finde ich dann doch sehr verengt. Das hat uns geprägt und bestimmt, aber war ja bei Weitem nicht alles.
Holger: Das ist ein heißes Thema. Dazu habe ich immer Auseinandersetzungen mit meinem Vater. Ich vertrete die Meinung, die DDR war grundsätzlich schlecht.
Astrid: Grundsätzlich war der Boden schlecht. Aber es gab Christen und andere, die sich gegen das System gestellt haben. Und es gab für viele trotz allem ein Leben, das für sie ganz subjektiv lebenswerter war als das nach 1990 – auch wenn das für mich völlig unverständlich ist. Ich war damals als Pfarrerin in der Prignitz hautnah konfrontiert mit Leuten, die sich überhaupt nicht mehr zurechtfanden, die ihren Job verloren, die ihr Schwein nicht mehr füttern konnten. Alles Leute, die dramatischen Verlust erlebten. Für mich als Christin war das Ende der DDR ein Gewinn. Ja, der Boden war schlecht, aber ich habe in der DDR auch einen christlichen Glauben erlebt, der dem biblischen Glauben näher war als im Westen. Eine Frau aus einem der alten Bundesländer sagte mir: „Ich bin Christ geworden, weil man mir gesagt hat, Jesus löst alle meine Probleme. Wenn ihr Christ geworden seid, wusstet ihr, jetzt kriegt ihr Probleme.“ Wenn ich das mal werten darf, dann finde ich, ist das die bessere Art Christ zu werden und Christ zu sein. Je mehr Abstand ich dazu habe, umso kostbarer wird für mich, dass ich durch diese Situation, Christsein mit Konsequenzen zu erleben, durchmusste. Weil da ganz wichtige Dinge in den Boden meines Lebens gelegt wurden. Mein Gott ist ein Gott, der mitten im Schlimmsten Segen wirken kann. Insofern kann ich nicht sagen, dass die Zeit bis 1989 für mich einfach nur abgrundtief schlecht und furchtbar war. Und das will ich auch den einfachen Menschen in der Prignitz nicht absprechen – die jetzt ganz sicher mehrheitlich AfD gewählt haben. Der Mensch ist subjektiv und lebt von seinen Erfahrungen und Empfindungen und Gefühlen.
Holger: Ich hatte jetzt als ehemaliger Bausoldat eine Begegnung mit einem Grenzsoldaten, „Sprechen zwischen den Stühlen“ heißt die Veranstaltungsreihe. Da habe ich schon an mir die „Arroganz des geschichtlichen Siegers“ gegenüber jemandem bemerkt, für den 1989 ein ganz schwieriger Einschnitt war. Das sind natürlich keine guten Voraussetzungen, um ins Gespräch zu kommen.
Astrid: Unmittelbar nach der Wiedervereinigung bat mich eine junge Berufsschullehrerin, in ihrer Klasse zu unterrichten, was die Christen glauben. Sie war SED-Kind, der Vater Offizier, die Brüder Berufssoldaten, die Mutter Lehrerin. Sie hatte überhaupt keine Chance, irgendetwas anderes zu kennen. Als Wandlitz [die abgeschottete Siedlung des SED-Politbüros, Anm. d. Red.] ausgeräumt wurde, brach ihr ganzes Fundament zusammen. Was, wenn mir das jemand gesagt hätte, dass alles irre, alles falsch war? Das hat mich bewegt und erschüttert: Was für ein Ermahnen braucht es für diese Menschen?
Holger: Wie kann man das thematisieren und persönliche Wertschätzung ausdrücken, ohne diese Diktatur zu legitimieren?
Eine gewisse Selbstkritik stünde uns im Westen gut an. Wir halten unsere Freiheit hoch, sehen aber oft nicht, was zum Beispiel Materialismus mit uns gemacht hat.
Henning: Ich vermute, das hat sich inzwischen ausgeglichen. Materialismus und völlige Diesseitigkeit sind inzwischen, glaube ich, im ganzen Land epidemisch verbreitet. In den ersten Jahren war das noch anders.
„Meine Hoffnung ist, dass wir miteinander beten – und dann geschieht etwas!“ – Henning Dobers
Was macht euch Hoffnung, wenn ihr an die Einheit Deutschlands denkt? Wofür betet ihr?
Astrid: Mir macht vor allem Hoffnung, dass der Mauerfall passiert ist! (lacht) Wenn so etwas möglich ist, dann sind ja noch ganz andere Sachen möglich. Ich wehre mich gegen alles Schwarzsehen. Und mir macht Hoffnung, wenn wir als Christen ein Bündnis schließen, dass wir sagen, wir wollen erstens auf unseren Gott schauen und zweitens auf den Reichtum, die Schönheit, die Freiheit, die in unserem Land sind. Wenn wir ein Klima der Dankbarkeit pflegen. Hoffnung kommt aus Dankbarkeit. Ich glaube, das sind Geschwister.
Holger: Mir macht Hoffnung, dass ich im Osten eine sehr wertvolle Ökumene erlebe: Christen in der postmodernen Gesellschaft erkennen und leben ihre Kraft in Gemeinsamkeit. Und dass wir wirtschaftlich nicht ganz hinten stehen. Es gibt einen Mittelstand, der sich seit der Wende wieder aufgebaut hat. Hoffnung gibt mir auch, dass die Parteien rechts der AfD in Sachsen bei der Wahl abgegessen haben. Das schien zwischendrin mal anders. Und mir macht Hoffnung, dass Gott seine Kirchengeschichte schreibt und wir Teil dessen sind. Mein Gebet ist, dass die Widersprüche
in unserem Land nicht zu Straßenschlachten oder Bürgerkrieg führen. Ich bete für Frieden, Bewahrung und Weisheit für Menschen, Polizei und Politiker.
Henning: Meine Hoffnung ist, dass wir miteinander beten – und dann geschieht etwas! Da bin ich mir sicher. Auch jetzt am 3. Oktober wieder bei „Deutschland betet gemeinsam“ [siehe Kasten]. Zweitens macht mir Hoffnung, dass tiefe Strömungen in der Geschichte und alte Traditionen wieder hochkommen: Sachsen zum Beispiel als Ort, wo Technik und Ingenieurwesen traditionell angesiedelt sind und geforscht und entwickelt wird. Das kommt wieder und ist nicht kaputt zu kriegen, das finde ich großartig. Ich habe noch einen Wunsch für Deutschland: Wir sind die größte Volkswirtschaft Europas und haben den höchsten Bevölkerungsanteil. Solange wir jedoch mit uns selber nicht klarkommen, sind wir immer auch eine Belastung für Europa. Wir sind in der Mitte Europas und haben die meisten Nachbarn. In uns grenzen seit jeher West und Ost aneinander. Das hat meines Erachtens auch eine geistliche Dimension. Wenn Versöhnung und Heilung in unserem Land stattfinden, hat das eine Strahlkraft. Das ist zuerst eine Frage des Gebetes und dann eine Frage der inneren Haltung auf beiden Seiten.
3. Oktober 2024: Gemeinsam feiern und beten!
Die Initiative „Deutschland singt und klingt“ lädt am heutigen Donnerstag, 3. Oktober, um 19 Uhr wieder alle Generationen und Kulturen zum offenen Singen und Feiern auf den Plätzen der Städte und Dörfer ein. Hunderte Chöre, Kapellen, Kirchen und Vereine machen bundesweit mit. Spontan noch eine Aktion in deiner Nähe finden? Das geht hier per interaktiver Karte.
Deutschland betet gemeinsam: Zusammen mit Christen aus unterschiedlichen Kirchen und Gemeinden beten, per Livestream auf Youtube und Bibel TV am heutigen Donnerstag, 3. Oktober, 20.15 Uhr.
Das große Bürgerfest zum Tag der Deutschen Einheit 2024 findet in Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern) statt: Noch bis morgen, 4. Oktober, wird mit Live-Bühnenprogramm, Kunst und Kultur, mit Dialog und Diskussionen und Angeboten für alle Generationen gefeiert.
Der ökumenische Gottesdienst zum Tag der Deutschen Einheit ist heute, Donnerstag, 3.Oktober, live von 10 bis 11 Uhr im ZDF zu sehen.
Den offiziellen Festakt überträgt um 12.10 Uhr die ARD.
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