Macron und Steinmeier bitten um Vergebung: Ist Versöhnung ein nationales Bedürfnis?

Die Staatsoberhäupter Deutschlands und Frankreichs erkennen zeitgleich eine (Mit-)Schuld an Völkermorden an. Was die Bitte um Vergebung politisch wie geistlich bedeutet, fragt Hans-Joachim Scholz.

niederlegung von Blumen an historischer Stätte

Am 27. Mai bat Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron in Ruanda öffentlich um Vergebung für die Mitschuld der „Grande Nation“ am Völkermord  an den Tutsi. Fast zeitgleich kündigte der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an, für den mittlerweile vom Bundestag anerkannten Völkermord an den Herero und Nama durch die damalige Deutsche Kolonialverwaltung in „Deutsch-Südwest-Afrika“ um Vergebung zu bitten und Wege der Versöhnung zu gehen. Was bedeutet es, dass diese Initiativen von Politikern kommen, obwohl die Bitte um Vergebung doch zu den ureigensten Herausforderungen des christlichen Glaubens gehört? Wird hier ein nationales Bedürfnis erkennbar?

Erst mit Warschauer Kniefall wird Reue politisch

In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg sprachen unsere Politiker nicht von Vergebung oder Versöhnung, sondern von Aussöhnung und Wiedergutmachung wegen der kollektiven Schuld. Erst Willy Brandt setzte mit seinem Kniefall 1970 in Warschau als Repräsentant unseres Landes ein Zeichen des Bedauerns und der Anteilnahme am Leid der Opfer sowie deren Nachkommen. 1998 bat dann Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul in Namibia gegenüber Nachkommen der Herero und Nama ausdrücklich und offiziell um Vergebung für die Schuld der deutschen Kolonialmacht vor dem 1. Weltkrieg. Papst Johannes Paul II. fand ähnliche Worte wegen der Schuld gegenüber den Juden. Und Macron wagte 2017 beispiellose Solidarität mit Israel und bekräftigte Frankreichs Verantwortung für die größte Massenverhaftung von Juden während des Zweiten Weltkrieges in seinem Land.

Opfer sollen nicht Opfer und Täter nicht Täter bleiben

Was bewegt Repräsentanten des Staates dazu, heute um Vergebung zu bitten? Es war schließlich nicht „unsere“ Bundesrepublik, die schuldig geworden ist, sondern die autokratisch Herrschenden damals. Dennoch sind wir betroffen – wegen der „Schuld unseres Volkes“: Es waren unsere Vorfahren. Wir identifizieren uns mit ihnen, wollen aber nicht mehr so wahrgenommen werden wie sie. Wir wollen anders auf die Nachkommen derer zugehen, die früher an diesem „deutschen Wesen“ zugrunde gegangen sind: Es tut uns leid und wir sagen das auch. Wir wollen „Heilung der Erinnerung“, suchen Chancen für eine gute Zukunft und hilfreiches Miteinander.

Im Prinzip geht es darum, den Opfern aus dem Opferstatus herauszuhelfen, wie auch wir nicht auf die Rolle der (Übel-)Täter reduziert bleiben wollen. Wie kann ein Opfer-Täter-Ausgleich geschehen? Wie weit muss er gehen? Das alles wird die Politik beantworten müssen.

Stellvertretend um Vergebung bitten – wie der Prophet Daniel

Die geistliche Frage jedoch lautet: Wie können Nachkommen von Opfern und Tätern vor Gott zusammenkommen? Gibt es ein Format von Versöhnung, das einerseits erlaubt Schuld zu benennen und andererseits Gottes Barmherzigkeit und Vergebung realisiert? Kann überwunden werden, was trennt? Können die Seelen und das Denken der Opfer, gelähmt durch Angst, Misstrauen und Grimm, geheilt und zu erneuertem Leben befähigt werden?

Das stellvertretende Gebet Daniels im Alten Testament liefert eine geistlich praktikable Struktur: Die Nachkommen identifizieren sich mit der Schuld der Väter und bitten Gott um Vergebung und um seinen Segen für den Wiederaufbau der Ruinen. Die Bitte um Vergebung bedeutet die Bitte um eine neue Chance. Es geht nicht darum, die Täter von damals zu entlasten – die Schuld bleibt bei den Tätern. Nicht die Überheblichkeit der Jungen motiviert das Gebet, sondern die Entschlossenheit zur Abkehr von den bösen Wegen der Vorfahren und die Bereitschaft zum Aufbruch in Frieden und Gerechtigkeit. Nicht unerheblich ist, dass dieses Modell von Vergangenheitsbewältigung aus dem Buch des israelitischen Propheten Daniel stammt (Kapitel 9). Wir lernen von ihm.

GGE: „Versöhnungs-Wege“ 50 Jahre nach Kriegsende

Die GGE initiierte 1994-1995 „Versöhnungs-Wege“ in über dreißig Länder Europas, in denen die Schrecken des 2. Weltkrieges auch im 50. Jahr nach Kriegsende Anlass gaben, für die Schuld unseres Volkes um Vergebung zu bitten: Christen aller kirchlichen Gruppen und Konfessionen taten das. Eine Gruppe von 114 Teilnehmern charterte einen Sonderflug nach Stalingrad. 2003 kam eine Gruppe russischer Christen zum Ökumenischen Kirchentag nach Berlin und benannte in einem Gottesdienst in der Südsternkirche vor Bischöfen und Kirchenleitern ihrerseits die russische Schuld.

GGE-Vertreter 1995 in Distomo, Griechenland
GGE-Vertreter 1995 beim Versöhnungsweg nach Distomo, Griechenland

Eine deutsche Gruppe war wiederum 2015 in Stalingrad-Wolgograd, um am 70. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland an der Trauer, dem Gedenken und der christlichen Auferstehungshoffnung teilzuhaben. Versöhnung wurde erfahrbar in Gottesdiensten, persönlichen Gesprächen und bei der großen Prozession vom Zentrum Wolgograds zum „Mamajew Kurgan“, der Gedenkstätte über den anonymen Grabstellen der Kriegstoten. Die Bitte um Vergebung, vor Gott und Menschen ausgesprochen und mit dem Vaterunser öffentlich quittiert, hat die Herzen berührt und nicht wenige seelische Wunden geheilt. Tränen des Bedauerns mischten sich mit Tränen des Leidens.

Gehen Christen weitere Versöhnungswege?

Werden Christen bereit sein, weitere Versöhnungswege zu gehen? Unsere Politiker haben jedenfalls deutlich die Bitte um Vergebung und das Bemühen um Versöhnung angekündigt, auch hinsichtlich so weit in der Vergangenheit liegender Übel wie dem Völkermord an den Herero und den Nama. Die Gerechtigkeit erfordert Redlichkeit und Wahrheit: Vergessen ist nicht erlaubt, solange einer vom Unrecht betroffen ist. Erinnern ist nötig. Ausgleich muss sein. Jedoch dürfen wir den Horizont der göttlichen Gerechtigkeit nicht ignorieren: Gottes Gerechtigkeit ist seine Barmherzigkeit. Wir Christen bekennen, „dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“ (Römerbrief, Kap. 5, Vers 8). „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“, sagte Johannes der Täufer über Jesus (Johannesevangelium, Kap. 1, Vers 29). Jesu Opfer ist unser Argument für Wahrheit und Erbarmen Gottes zugleich. Beides müssen wir um Christi Willen unmissverständlich vertreten!

Hans-Joachim Scholz

Hans-Joachim Scholz ist Pfarrer in der badischen Landeskirche und seit Kurzem im Ruhestand. Er und seine Frau Rita leiten den GGE-Dienst „Kirche und Israel“, weil beides für sie unbedingt zusammengehört.

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2 Gedanken zu “Macron und Steinmeier bitten um Vergebung: Ist Versöhnung ein nationales Bedürfnis?

  1. Ergänzung: Die Versöhnungs-initiativen, die in diesem Prozess entstanden sind, bestimmen die politische Diskussion zum Umgang mit der Kolonialvergangenheit bis heute.
    Ein wichtiges Dokument ist die Erklärung_Völkermord_Südwestafrika und um die ökumenische Dimension zu sehen: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/Statement_of_Consultation_on_Genocide_final.pdf .
    Fazit: Kirche HAT HIER VORBILDLICH VERSÖHNUNG UND VERGEBUNG PRAKTIZIERT UND DER POLITIK VORGABEN GEBEN!

    1. Lorenz Reithmeier hat in seinem Kommentar mit Recht die intensiven und umsichtigen Versöhnungshandlungen der EKD in Erinnerung gebracht und gezeigt, dass so der Politik Wege der Versöhnung speziell für Namibia gewiesen wurden.
      Bei der Besinnung über die kirchlich-ökumenischen Mühen zur Heilung der deutschen Kolonialgeschichte in Namibia wird jedem Leser klar, wie ernst die Evangelische Kirche ihre Verantwortung nimmt.
      Zugleich wird deutlich, dass sie das alles als Kirche tut, die selber in geschichtlicher Verantwortung steht. Als Kirche nimmt sie teil an offiziellen Akten der Anerkennung des Genozids, unterstützt die Gestaltung von Gedenkorten und wirkt mit bei vielen wesentlichen Initiativen der Versöhnung.

      Wer aber spricht für die nicht evangelischen Deutschen? Dass der Bundespräsident für alle die Bitte um Vergebung ausspricht, offenbart sein Gespür für die nationale Bedeutung von Versöhnung.
      Der Prophet Daniel hat sein Bußgebet ausdrücklich für seine „Väter“, für die Generationen vorher, für das Volk also gesprochen. Sollte dieses nationale Bedürfnis, das über die kirchliche Verantwortung für die eigene Kirchengeschichte hinausgeht, nicht auch durch kirchliche Initiativen ausdrücklich aufgenommen werden?

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