Was wir von Dietrich Bonhoeffer, dem zuletzt so oft missgedeuteten Theologen im Widerstand gegen Hitler, heute lernen können: Ein Beitrag zum 80. Todestag von Albrecht Schödl.

Heute, am 9. April, sind es 80 Jahre, dass Dietrich Bonhoeffer noch in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs auf persönlichen Befehl des „Führers“ hingerichtet wurde. Das Lebensschicksal Bonhoeffers, sein früher Tod und sein unvollendetes Werk faszinieren weltweit. Besonders seine späten Äußerungen aus dem Gefängnis haben es der Nachwelt angetan.
Eine Biografie und ein Film sorgen aktuell für Diskussionen
Für die meisten seiner Verehrer ist es unwichtig, dass seine persönlichen Briefe aus der Haft unter Fachleuten extrem unterschiedlich interpretiert werden. „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ ist wirkmächtiger und inspirierender als akademische Reflexionen – Kalenderblätter, erbauliche Bonhoeffer-Sprüche und sein mutiger Widerstand gegen Hitler prägen sein Bild in der Gegenwart. Für eine große Mehrheit wird Bonhoeffers Vermächtnis vom Ende seines Lebens her interpretiert.
US-Amerikanern gilt Bonhoeffer als mustergültiger Deutscher. Dazu trug maßgeblich die seit 2010 millionenfach aufgelegte Biografie von Eric Metaxas bei. 2019 wurde im KZ Flossenbürg eine umstrittene Gedenktafel für Bonhoeffer im Auftrag von Präsident Trump enthüllt. Auch die aktuelle Verfilmung seines Lebens durch einen US-amerikanischen Regisseur sorgt für Diskussionen. Sie setzt den Heldentod des Agenten Bonhoeffer in den Mittelpunkt und lässt die Hinrichtungsszene in Analogie zur Kreuzigung Jesu aufstrahlen.
Was bleibt von Bonhoeffer festzuhalten, wenn sein Vermächtnis so vielseitig wie umstritten ist?
Bonhoeffer erlebte eine entscheidende Wende
Eine wichtige Spur zu seinen innersten Anliegen führt über seine engsten Freunde: Eberhard Bethge war der Freund, der Dietrich Bonhoeffer überhaupt erst der Nachwelt bekannt und zugänglich machte. Und Franz Hildebrandt war in den entscheidenden Jahren um 1932 Bonhoeffer am nächsten, als dieser seine entscheidende Lebenswende hatte, von der er rückblickend sagt: „Ich kam zum ersten Mal zur Bibel. […] Ich hatte schon oft gepredigt, ich hatte schon viel von der Kirche gesehen, darüber geredet und geschrieben – und ich war noch kein Christ geworden, sondern ganz wild und ungebändigt mein eigener Herr. […] Daraus hat mich die Bibel befreit“ (in einem Brief von 1936).
Ein ungewöhnliches Bibelwort rückte ins Zentrum
Diese Wende zur Heiligen Schrift lässt sich anhand einer sehr ungewöhnlichen Bibelstelle nachzeichnen, die mir charakteristisch für Bonhoeffers Theologie in ihrer sich fortan durchhaltenden schriftgebundenen Frömmigkeit erscheint. Ich spreche von 2. Chronik 20,12, ein für uns heute zumindest ziemlich abseitig erscheinender Bibelvers: „Wir wissen nicht, was wir tun sollen, sondern unsere Augen sehen nach dir.“
Immerhin ist im ersten Gedenkgottesdienst für Bonhoeffer am 27. Juli 1945 in London, als auch die nächsten Angehörigen in Deutschland noch nichts von seinem Schicksal wussten, dieses Bibelwort als Überschrift für sein Lebensbild ausgelegt worden. Ich zitiere aus der ersten Gedenkansprache für ihn von Franz Hildebrandt:
„Wir wissen nicht, was wir tun sollen, sondern unsere Augen sehen nach dir.“ (2. Chronik 20,12) – Im Mai 1932, ein paar Monate vor Hitlers Machergreifung, stand Dietrich Bonhoeffer auf der Kanzel der Dreifaltigkeitskirche in Berlin und predigte über diesen Text. Er war damals Studentenpfarrer der Technischen Hochschule neben seiner Privatdozentur an der Universität. Der Text hat ihn lange zuvor und lange hernach beschäftigt, und heute dürfen wir ihn brauchen als die Überschrift zu dem Bilde seines Lebens, das uns vor Augen steht. Wir hätten unsern Freund und Bruder schlecht verstanden, wenn wir uns hier ins Biographische verlieren wollen; aber die persönliche Erinnerung mag die Illustration abgeben zu dem Wort, das im Zentrum seines Denkens stand und in dessen Dienst er sich vermehrt hat.
Lange Zeit meinte ich, dass hier ein Druckfehler vorliegen müsse: Wie konnte Bonhoeffer sich im Dienst dieses oder anderer Schriftworte „vermehren“? Müsste es nicht heißen, „in dessen Dienst es [nämlich das Bibelwort] sich vermehrt hat“? Inzwischen habe ich verstanden, dass der Lutherspezialist Hildebrandt sehr bewusst so formuliert hat.
Bei Luther heißt es nämlich einmal: „Durch Glauben wandelt uns Gott in sein Wort, nicht aber sein Wort in uns“.
Was ist der Unterschied? Natürlich hat Bonhoeffer als Theologe sich immer schon mit der Bibel beschäftigt, aber seit seiner Entdeckung, dass Gott durch die Bibel in sein Leben hineingesprochen hat, ist ihm klar geworden – an erster Stelle steht: Gottes Wort verwandelt und vermehrt uns. Und umgekehrt gilt: Wenn wir Gottes Worte verwandeln wollen, läuft irgendetwas falsch.
Gottes Wort verwandelt uns – nicht umgekehrt
Von Bonhoeffer können wir lernen, dass wir davon leben, auf Empfang gestellt zu sein, also „wortförmig“ zu werden. Wir sind dazu bestimmt, von Gott verwandelt, vermehrt und in den Dienst genommen zu werden. Durch das Schriftwort aus 2. Chronik 20,12 buchstabiert Bonhoeffer dies mit seinem Leben nach. Hier scheint mir seine bleibende Bedeutung für uns heute zu liegen.
Theologe – Christ – Zeitgenosse, unter diesen drei Überschriften beschreibt Eberhard Bethge in seiner Biographie Bonhoeffers Lebensbild. Wir tun gut daran, ihn von dieser Mitte her als entschiedenen, aus dem Wort Gottes handelnden Christen wahrzunehmen und zu verstehen, der bleibende Impulse für Theologie und Zeitgenossenschaft gesetzt hat.
Am 08.April haben zwei meiner Söhne Geburtstag. Wir sind am Reichstag in Berlin vorbeigelaufen. Ich wurde an zwei Dinge erinnert. An den bevorstehenden Gedenktag Bonhoeffers und an die Reichstagsverhüllung in den Neunzigern. Ich war damals am Bau der Stahlkäfige beteiligt.
Die Verhüllung des politischen Zentrums damals, birgt eine geistliche Botschaft bis heute. Auch für Menschen die ihr Leben am Wort Gottes ausrichten.
Verhüllung bleibt ein Dauerzustand. Ich möchte fast denken, es ist Gott gewollt. Das gefällt mir nicht – weil ich Erkenntnis möchte. Das ist ja ein biblischer Auftrag an Erkenntnis zuzunehmen.
Allerdings, so wie Bonhoeffer Veränderung durch ein alttestamentarisches Wort erlebte, ging und geht es auch mir. Und vermutlich Vielen. Wenn sich Gott offenbart – verstummt alles. Vielleicht sollte ich mehr eine Haltung der Gottesannäherung suchen, auch wenn das dramatisch für mich wird und schon geworden ist. Wer sich Gott nähern will, kann es nur in Ergebenheit tun. Ergebenheit – wieder ein Wort, was mir nicht gefällt. Aber es scheint die Botschaft zu sein, die Bonhoeffer zuletzt vermittelt und gelebt hat.
Uwe Fleischer