Kirche darf sich nicht einfach den Bedürfnissen anpassen

Ist Kirche vor allem da, um die Zivilgesellschaft zu stärken? Das darf nicht ihr erster Auftrag sein, sagt Axel Nehlsen. Er hat sich durch die Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung gearbeitet. Im 3. und letzten Teil geht es um die Rolle, die Kirche in der Gesellschaft spielt.   

Was bedeuten die Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) für lebendige Gemeinden, für eine missionarische Kirche und für die Erneuerungsbewegungen? Nach Teil 1 und Teil 2 meiner Analyse geht es heute, im letzten Teil, um die in der Kirche Aktiven – und auch hier zeigt sich, wo Kirche in der Vermittlung von lebendigem Glauben ganz offensichtlich versagt. 

Kirche hilft vor allem im Lebensalltag

Wenig überraschend ist wohl dieses Ergebnis: „Es ist kein (!) genereller Trend erkennbar, die Kirchen thematisch auf das Spielfeld der Religion beschränken zu wollen. … Den Kirchen werden auch von Menschen, die mit Religion wenig anfangen können, wichtige soziale Aufgaben zugeschrieben.“ Die Reichweite der Kirchen in die Gesellschaft hinein ist dabei nach wie vor groß: 35% der Bevölkerung hatten in den letzten zwölf Monaten Kontakt zu einer kirchlichen Einrichtung“, davon 69% zur kirchlichen Ortsgemeinde, 42% durch Besuch eines Kirchengebäudes, 21% zu Diakonie oder Caritas, 16% zum kirchlichen Kindergarten. Wer von solchen Kontakten berichtet, stuft diese zu 52% als „eher wichtig“ für den Lebensalltag ein, aber nur zu 31% als „eher wichtig“ für den persönlichen Glauben.

Kirche gibt wenig Impulse für den Glauben

Auch wird laut KMU „der eigene Glaube oder die eigene Distanz zum Glauben … von der kirchlichen Arbeit häufig kaum berührt und bekommt wenig Impulse für eine vertiefte Auseinandersetzung, Überprüfung und Veränderung“. Dieses Bildungsanliegen der Kirche sowie die missionarische Absicht (hier ist endlich mal von ihr die Rede!) entfalten „in der Breite nur eingeschränkt Wirkung“.

Ein schlechtes Zeugnis für die Wirkungskraft der christlichen Botschaft! Und sicherlich auch die „Quittung“ für Jahrzehnte kirchlichen Versagens. Allerdings muss man dabei berücksichtigen, dass dies ein Durchschnittswert aufs ganze Land gesehen ist, der auch die zahlenmäßig überwiegenden liberalen und oft wenig ausstrahlungskräftigen Teile der Kirche abbildet.

Pfarrer und Pfarrerinnen bleiben wichtig …

Was sagt das nun über die Ausstrahlungskraft der kirchlichen Repräsentanten aus? Immerhin geben 76% der evangelischen Kirchenmitglieder an, die Pfarrperson ihrer Kirchengemeinde zumindest namentlich zu kennen, 52% haben mit ihr bereits persönlich gesprochen. Das ist in den Großstädten und im Osten des Landes sicherlich nicht in diesem Maße der Fall. Aber: Kaum jemand übertrifft solche Werte in einer Stadt oder politischen Gemeinde: „Das zeigt, welch herausgehobene Stellung Pfarrpersonen für die öffentliche Wahrnehmung von Kirche derzeit haben.“ Und diese Werte blieben in den letzten Jahrzehnten weitgehend konstant.

… die übrigen Christen aber spielen eine immer größere Rolle

Das sind erstaunliche Ergebnisse, die die Wichtigkeit der persönlichen Kontakte zum Kirchenpersonal unterstreichen. Wie aber kann das angesichts einer wachsenden Finanz- und Personalknappheit in Zukunft noch gelingen? Der Mangel an missionarisch gesinnten Pfarrern und Pfarrerinnen und auch an Bewerbern für gemeindepädagogische Stellen etwa in der Kinder- und Jugendarbeit ist teils dramatisch. Die einzige Antwort, die mir einfällt, ist: Die Rolle der Ehrenamtlichen und der Christen im Alltag der Welt bekommt umso mehr Bedeutung! Die verbliebenen Hauptamtlichen sollten daher ihren Schwerpunkt auf die Entwicklung, Schulung und Begleitung von Ehrenamtlichen legen.

Auch kirchlich Engagierten geht es vor allem um Gemeinschaft

Über Gottesdienstbesuche hinaus haben sich „35 bis 40% der Bevölkerung in ihrer bisherigen Biografie schon einmal am kirchlichen Leben … beteiligt“. Das verteilt sich wie folgt: Besuch von kulturellen Veranstaltungen der Kirchengemeinde (53%), projektbezogene Mitarbeit (49%), regelmäßige Mitarbeit in der Gemeinde (47%), Teilnahme an Gesprächskreisen und Gruppen (43%), aktive Mitwirkung bei Gottesdiensten (36%) sowie Mitwirkung in Kirchenchören und Musikgruppen (30%).

„Das ist ein beachtlich hoher Wert… Katholische und Evangelische beteiligen sich aktuell im gleichen Ausmaß am kirchlichen Leben.“ Das Hauptmotiv ist dabei: „Gemeinschaft erleben und für andere da sein“ (91%), für 76% ist „das soziale Miteinander wichtiger als religiöse Fragen“. Nur für 43% „stehen die religiösen Aspekte meines christlichen Glaubens im Vordergrund“ des kirchlichen Engagements.

Gemeinschaft sollte Ansatzpunkt für das Evangelium sein!

Diese Motive bestätigen die vorherigen Ergebnisse über die geringe Bedeutung der christlichen Inhalte, in diesem Fall sogar für die in der Kirche Engagierten. Ein trauriges Bild für den Zustand der Kirche im Ganzen! Und umso mehr ein Ansporn, in lebendigen und erneuerten Gemeinden Alternativen zu bieten! Da der Aspekt der Gemeinschaft offenbar für viele wichtig ist, wäre auch hier ein lohnender Ansatzpunkt, um Menschen in eine liebevolle und heilende Gemeinschaft einzubeziehen. Dies ist ja auch ein Kernthema des Evangeliums. 

Ehrenamt ja – aber meist nicht wegen des Glaubens

Auf der anderen Seite bestimmt die kirchliche Religiosität „zu ganz erheblichen Teilen“, ob sich jemand überhaupt ehrenamtlich engagiert, auch außerhalb der Kirche.„Damit sind die Kirchen ein höchst relevanter Knotenpunkt zur Stärkung der Zivilgesellschaft“ und verdienten „schon allein deshalb … Unterstützung“.

Die Studie macht aber auch deutlich, dass das nicht zuerst aus religiöser Überzeugung geschieht: „Dass gesellschaftliche Mehrheiten mit religiösen Überzeugungen gegenwärtig kaum noch etwas anzufangen wissen und auch kirchlich verbundene Menschen ihr Engagement überwiegend nicht als religiös motiviert betrachten, wird die Kirchen und die Art und Weise, wie sie zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen, weiter verändern.“

Daraus folgt: „Die soziale Reichweite der Kirche ist heute wesentlich größer als ihre religiöse Reichweite.“ Das will die KMU als Potenzial anerkennen und nutzen – „zur Aktivierung und Stabilisierung der Zivilgesellschaft und zur gesellschaftlichen Integration“.

Zivilgesellschaft stärken: Soll das ernsthaft unser erster Auftrag sein?

Zu fragen ist dann allerdings, ob das wirklich der eigentliche Auftrag der Kirche und der Gemeinde Jesu ist. Es ist schön, dass die Kirchen auch diese positiven Wirkungen für die Zivilgesellschaft haben, aber sollen sie sich deshalb etwa darauf beschränken? Wenn wir bei unserem Kernauftrag bleiben, nämlich der Verbreitung der Liebe Gottes mit Wort und Tat, wohl kaum.

Sollten wir Kirche also den Bedürfnissen anpassen?

Wie Kirche und Glaube von Menschen gesehen und bewertet wird, wird direkten Einfluss darauf haben, wie die Kirchen konkret vor Ort oder auf einem bestimmten Gebiet handeln – zu diesem Ausblick kommt die 6. KMU und zieht folgende Konsequenz: „Eine solche strategische Ausrichtung ist erforderlich in einer Zeit, in der Kirchlichkeit nicht mehr selbstverständlich ist und das, was manche für ein ,Kerngeschäft‘ halten, nur noch für sehr wenige besonders relevant ist. Es gilt, kirchliche Organisationen so zu verändern, dass sie bestmöglich ihrem Ziel dienen können, das Evangelium unter den Menschen in Bewegung zu halten.“Wobei die Frage ist, was es denn heißt, dass „das Evangelium unter den Menschen in Bewegung“ bleibt?

Die Kirche braucht Erneuerung aus dem Heiligen Geist!

Besser ist es – und dafür können wir beten und arbeiten –, das Evangelium selbst setzt die Menschen in Bewegung, und zwar:

  • die Kirche mit ihren Strukturen und ihrem Personal hin zu einer Erneuerung aus den Quellen des Wortes und Geistes Gottes;
  • die engagiert Glaubenden hin zu ihren nicht glaubenden Zeitgenossen;
  • die Säkularen und die distanzierten Kirchenmitglieder hin zu einer Öffnung für die Leben schaffende Botschaft von Jesus Christus.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für eine Kirche, die sich an ihr Bekenntnis gebunden sieht und auf die Erneuerung aus dem Heiligen Geist hofft? Darüber müssen wir jetzt, nach den Ergebnissen der 6. KMU, weiter diskutieren. Wie seht ihr das? Ich lade euch ein: Diskutiert mit und kommentiert die Ergebnisse der KMU auf dem GGE-Blog!


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Axel Nehlsen

Axel Nehlsen, Pfarrer i.R., war bis 2016 Geschäftsführer des Stadtnetzwerks „Gemeinsam für Berlin“. Er ist als Mentor tätig und baut gerne Brücken zwischen Landeskirche und Freikirchen und zwischen evangelikaler und charismatischer Tradition.

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