Beerdigungen sind eine Riesenchance, Menschen mit dem Evangelium in Kontakt zu bringen, die sonst keinen Fuß in eine Kirche bekämen. Swen Schönheit erzählt zum Totensonntag aus 35 Jahren Pfarrdienst in Berlin.
Beruflich muss ich dort nicht mehr hin, seit ich im Sommer als Pfarrer in Berlin in den Ruhestand verabschiedet wurde. Und doch zieht es mich immer wieder auf Friedhöfe: vor allem auf alte mit ihren historischen, manchmal verfallenen Gräbern. Rund 500-mal stand ich in meinem Pfarrdienst am offenen Grab, versuchte mich auf Menschen unterschiedlichster Herkunft einzustellen, zu trösten und die richtigen Worte zu finden. Trotz aller Routine: Ich habe diesen Dienst gerne getan und gerade an der Grenze des Lebens in besonderer Weise den Heiligen Geist erlebt. Schließlich hat Jesus seinen Jüngern den „Tröster“, seinen Geist als „Beistand“ verheißen (Johannesevangelium, Kap. 14, V. 16-17)!
In meinem Dienst als Pfarrer war in den letzten Jahren alles an Publikum dabei: von den gut betuchten Mantelträgern bei der Bestattung eines Schauspielers über das voll besetzte Krematorium beim Abschied von einem Architekten, nach dem inzwischen eine Straße benannt ist, bis hin zu den einfach gestrickten Leuten, die mit Jogginghose und Goldkettchen auf dem Friedhof erschienen. Doch vor Gott gilt am Ende „kein Ansehen der Person“ (Römerbrief, Kap. 2, V. 11). Und dann kam die Beisetzung von Lieselotte. Sie hatte sich schon Jahre zuvor gewünscht, dass ich sie einmal beerdigen sollte. Zum großen Friedhof in Berlin-Lichtenberg, wo auch die „Helden des Sozialismus“ ihre Gedenkstätte haben, kam ich mit dem Fahrrad und stand schließlich mit den Sargträgern und der Bestatterin allein am Grab. Lieselotte war in den 1990er-Jahren in meine Bibelstunde gekommen, doch am Ende starb sie einsam. Allerdings hatte sie bis zuletzt an Jesus festgehalten. Was sollte ich sagen? Über das offene Grab hinweg entwickelte sich ein offenes Gespräch mit der Bestatterin über den christlichen Glauben.
Ja, am Ende scheiden sich die Geister: Wer geht arm, wer geht reich? Wer war beliebt, wer scheint vergessen? Und vor allem: Wohin gehen wir eigentlich? Diese Frage gehört zu den großen Rätseln der Menschheit. Regelmäßig habe ich diese Frage im Beerdigungsgespräch aufgeworfen. Meistens gegenüber Menschen, die ich zuvor nie gesehen hatte, und die ich nun zuhause aufsuchte. Die Antworten habe ich mir notiert. Machten sie mir schon als jungem Pfarrer in den 1990er-Jahren doch schnell deutlich: Unsere Nachbarn sind moderne Heiden, die jede kirchliche Tradition hinter sich gelassen haben. So wurde jede Amtshandlung eine Erstbegegnung und meistens eine einzigartige Gelegenheit, „die Kirche ins Haus zu bringen“.
Mit dem Heiligen Geist auf dem Friedhof? Als Tröster kann er jedes Format füllen, auch eine kirchliche Amtshandlung, um Gottes Liebe in verzagte oder verunsicherte Herzen zu bringen. Doch was glauben unsere Nachbarn eigentlich im Blick auf Tod und Ewigkeit? Wie stehen sie zu der meistens verdrängten Frage, was „danach“ kommt? – Der Vati sei jetzt „da oben bei den Sternen“, der Opa „ist jetzt bei den Engeln und hilft uns“, meinten einige der Hinterbliebenen. Andere gaben sich als „Realisten“ aus: „Wenn man stirbt, ist alles vorbei!“ Die Mehrheit der Zeitgenossen hofft jedoch „auf eine bessere Welt“ und dass „die Seele bleibt, so eine Art Energie“.
Zum Abschied brechen manchmal auch alte Wunden auf. Unverarbeitete Lebensgeschichten stehen im Raum, haben Familien entzweit, machen sprachlos. „Peter, wie konntest du uns das nur antun, dem Pfarrer zu verschweigen, dass du noch einen Bruder hast!“ So wurde ich aus den Reihen heraus mitten bei der Beerdigungsansprache unterbrochen. Manchmal brauchte man als Pfarrer geradezu detektivische Fähigkeiten – und doch blieb am Ende vieles verborgen.
Und dann war da noch Herr K. Nachdem seine Frau 2016 gestorben war, besuchte ich ihn zuhause im 12. Stock eines Berliner Hochhauses. Im Gespräch lud ich ihn auch zu unserem Gottesdienst ein, „wo wir bei den Ansagen auch Ihrer Frau gedenken“. Obwohl er seit Jahrzehnten in derselben Wohnung wohnte und unserer Kirche aufs Dach blicken konnte, wusste er nicht, wo hier eine Kirche war. Er kam. Und er kam immer wieder, brachte sogar einen Freund mit. Die beiden kamen regelmäßig und wuchsen in die Seniorenarbeit hinein. Schließlich erkrankte Herr K. an Krebs. Als ich nach meiner Verabschiedung als Pfarrer der Apostel-Petrus-Gemeinde noch einmal zu Gast im Gottesdienst war, ging ich auf ihn zu, segnete ihn kurz und machte ein Kreuzeszeichen auf seine Stirn. Er hatte Tränen in den Augen. Das war meine letzte Begegnung mit ihm … Wie ich hörte, starb er einige Zeit später im Frieden. Der Heilige Geist wirkt auch an Menschen, die der Kirche längst entfremdet waren!
„Der Auftrag der Kirche … besteht darin, an Christi Statt … die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“, heißt es in der 6. These der Barmer Erklärung, die vor 90 Jahren in dunklen Zeiten publiziert wurde. Im Rahmen von Bestattungen erleben wir noch am stärksten die Reste einer Volkskirche, auch wenn selbst unter den evangelischen Kirchenmitgliedern bundesweit nur noch 72 Prozent eine kirchliche Beisetzung wünschen. Unser Auftrag hat sich bis heute nicht verändert – auch nicht auf dem Friedhof!
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