Ukraine: Beten um Heilung für das Land

Auf den Spuren deportierter Juden: Hans-Joachim Scholz berichtet vom GGE-Versöhnungsweg in die Slowakei, nach Ungarn und in die Ukraine. Das Ziel: Antisemitismus und Hass überwinden.

Bußgottesdienst in Kamjanez-Podilskyj

Es war der erste große Massenmord an Juden im Zweiten Weltkrieg: 23.600 Juden aus Galizien, Ungarn, der Slowakei und der Ukraine, brutal und gnadenlos nach Kamjanez-Podilskyj (Ukraine) getrieben und dort am 26. bis 28. August 1941 hingerichtet. Die Massenerschießung befahl und leitete der Kommandeur des deutschen Polizeibatallions 320, SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln. Die Täter sahen sich im Anschluss ermutigt, weitere schreckliche Massaker mit Zehntausenden jüdischen Opfern zu verüben, so in Babyn Jar (Ukraine) im September und in Rumbula (Lettland) im November und Dezember 1941.    

Auf den Spuren der Opfer von Kamjanez-Podilskyj haben wir, eine internationale Reisegruppe der GGE Deutschland und der Initiative „Toward Jerusalem Council II“ (TJCII), uns jetzt vom 20. bis 28. August bewegt. Die GGE-Versöhnungswege zwischen 1994 und 2001 hatten zum Ziel gehabt, die deutsche Schuld gegenüber den von den Nazis überfallenen Ländern und dem jüdischen Volk zu bekennen und Buße zu tun. Dieser Versöhnungsweg sollte nun helfen, die „Decke des Schweigens“ über den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu lüften, die in Ungarn, der Slowakei und der Ukraine nach wie vor die Aufarbeitung behindert, und unseren Geschwistern dort in ihrem eigenen Erinnern und Bekennen beizustehen. Denn wir erwarten Heilung und Wiederherstellung für Länder, Nationen und Völker von unserem himmlischen Vater: Wenn „mein Volk, über das mein Name ausgerufen ist, sich demütigt und betet, mich sucht und von seinen schlechten Wegen umkehrt, dann höre ich es im Himmel. Ich verzeihe seine Sünde und bringe seinem Land Heilung“ (2. Chronik, Kap. 7, V. 14). Das ist unsere Aufgabe als Volk Gottes! Gott will die Last der Sünden wegnehmen und das Land heilen. Denn noch immer lastet der Holocaust schwer auf der Ukraine, wo an mehr als 2.000 Orten Juden ermordet wurden.

Wir starteten am 20. August im slowakischen Šahy, im ehemaligen jüdischen Ghetto und der Synagoge. Die mit jiddischen Liedern umrahmte Gedenkfeier bekam ihre besondere Würde durch den slowakischen Landesrabbiner, der mit uns betete und eine Kerze an der Menora entzündete.

Budapest, Rumbach-Synagoge

In der Rumbach-Synagoge in Budapest (Ungarn) am 21. August berichtete Historiker Dr. Tamás Stark von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften von den staatenlosen galizischen und slowakischen Juden, die 1941 nach Budapest gekommen waren. Die ungarische Regierung hatte sich ihrer „entledigen“ wollen, indem sie sie in den Machtbereich von Wehrmacht und SS abschob und damit ihr Todesurteil sprach. Rabbi Peter Kardos, selbst Holocaust-Überlebender, sprach das Totengebet. In Budapest nahmen leitende Vertreter aus Pfingst- und charismatischen Kirchen, katholischer Kirche, jüdischer Gemeinde, presbyterianischer und lutherischer Kirche teil. 

Wir trafen uns im ukrainischen Uschgorod am 22. und 23. August zu Lobpreis und Gebet in einer evangelischen Gemeinde, bevor wir am Folgetag in der Stadt an ehemaligen Orten jüdischen Lebens und beim Durchgangsghetto in der Nähe des Bahnhofs beteten. Dann die große Gedenkveranstaltung in der Philharmonie, mit Gästen aus Militär und Politik, aus der griechisch-katholischen und der reformierten Kirche, aus evangelischen Freikirchen, der Roma-Gemeinde und messianisch-jüdischen Gemeinden. Der Historiker und Jurist Alexander Marusenko blickte sehr persönlich auf den damaligen Umgang der Bevölkerung mit den ortsansässigen und den nach Uschgorod deportierten Juden zurück. Am Abend begrüßten wir den Schabbat in einer messianisch-jüdischen Gemeinde.  

Die Philharmonie in Uschgorod in der ehemaligen Synagoge

Plakat für die Gedenkveranstaltung am 23. August in der Philharmonie in Uschgorod

Gedenken in der Philharmonie von Uschgorod

Wir feierten am frühen Morgen des 24. August in Uschgorod den 33. Unabhängigkeitstag der Ukraine mit.

Uschgorod, Feier Unabhängigkeit

Dann ging es nach Kolomea und dort direkt zum jüdischen Friedhof, wo es 1941 Massenerschießungen gegeben hatte. Am Gedenken dort nahmen der Bürgermeister und die Stadtvertreterin für den Schutz des Kulturerbes teil, außerdem katholische, orthodoxe und griechisch-katholische Geistliche (der Vorsteher der jüdischen Gemeinde war leider erkrankt).   

Gedenken in Kolomea

Von Kolomea aus brachen wir am 25. August zu einer Gebetswanderung nach Sabolotiw auf und feierten dort die katholische Messe mit, bevor wir uns an dem Holocaust-Denkmal versammelten, das im vergangenen Jahr mit Spenden aus unserer deutsch-slowakischen Initiative erneuert worden war. Mit dabei: viele Menschen aus der Stadt, die örtlichen Geistlichen, der Bürgermeister, sein Stellvertreter. Rabbi Mosche Leib Kolesnik aus Iwano-Frankiwsk sprach den Segen und sang das Friedensgebet „Oseh Schalom Bimromav“ mit uns.

In Sabolotiw, am erneuerten Holocaust-Denkmal

Gebetswanderung von Kolomea nach Sabolotiw

Der jüdische Friedhof von Sabolotiw

Dann am 26. und 27. August unsere letzte Station: Kamjanez-Podilskyj. Bereits in der Schlussphase unserer Reisevorbereitungen war uns bewusst geworden: Nicht auf jeder unserer Stationen würde dasselbe „dran“ sein. In Kamjanez-Podilskyj war bis zuletzt nicht klar gewesen, wer welche Aufgabe verantwortlich übernehmen würde. Dann hörte ich vom Herrn: „Ihr seid dran! Da war noch kein Deutscher vor euch und hat diese Sünde bekannt. Stellt euch hin und bekennt sie. Dann finden die anderen ihren Platz bei euch.“ Es war also unsere Aufgabe, die Decke des Schweigens aufzuheben und den „priesterlichen Dienst“ der Versöhnung zu tun.

Mit der jüdischen Gemeinde gedachten wir öffentlich am Massengrab der 23.600 ermordeten Juden. Bürgermeister und Gemeindevorsteherin sprachen über die Geschichte und unsere Verantwortung heute. Ich bekräftigte: „Wir sind dankbar für die Möglichkeit, als Gruppe aus mehreren Nachbarländern an diesem Gedenktag hier zu sein. Als Deutsche bringen wir nicht nur Mitgefühl zum Ausdruck, sondern bekennen die Schuld am Massaker als unsere Sünde gegen Gott und die jüdische Gemeinschaft. Wir bekräftigen: Israel, wir stehen zu dir! Und wir bitten um Gottes Erbarmen.“ Am nächsten Tag hielten wir unseren Bußgottesdienst außerhalb des Massengrabes auf dem gepflasterten Weg. Pavol Strezo, Vizedirektor von TJCII Europa, hatte einen Teppich ausgebreitet, auf dem wir niederknieten und nach jedem Abschnitt des Sündenbekenntnisses einen Stein ablegten. Symbolisch hoben wir diesen Teppich hoch und legten ihn seitwärts ab, räumten ihn „aus dem Weg“ mit dem Gebet „Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt, erbarm dich unser, gib uns deinen Frieden!“

Bußgottesdienst in Kamjanez-Podilskyj. Symbolisches „Aus-dem-Weg-räumen“ von Sünde und Schuld durch das Lamm Gottes, Jesus

Am Abend feierten wir Gottesdienst mit der örtlichen messianisch-jüdischen Gemeinde, bevor wir am 28. August die Heimreise antraten.

Doch nicht nur der Zweite Weltkrieg lastet auf den Ländern: Die Verbrechen des Kommunismus an Menschen und an Kirchen, der Hass und die Massaker zwischen Ukrainern und Polen, die Vertreibungen und Umsiedlungen haben aus allen Opfer gemacht. Vorwürfe, Flüche, Hass scheinen unüberwindlich. Es sind jedoch unsere Sünden, die uns von Gott trennen. Darum kann nur das Sündenbekenntnis retten: Wo die Sünde mächtig geworden ist, ist die Gnade mächtiger! Versöhnung mit Gott heilt. Die Wahrheit macht frei von alten Lasten. Die Entlastung durch das Lamm Gottes, das „die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Johannesevangelium, Kap. 1, V. 29), befähigt Opfer dazu, anderen Opfern Aufmerksamkeit, Trost und Mut zur Wahrheit zu vermitteln.

Wir – die Initiatoren und die geistlich Leitenden vor Ort – waren sicher: Wir tun auf dieser Reise einen „priesterlichen Dienst“, wir tun also stellvertretend Buße für die Sünde des Antisemitismus, um ihn zu überwinden. Er kann nicht überwunden werden durch Aufklärung und Pädagogik, und schon gar nicht durch politische Macht. Der Hass auf Juden und die Absicht, sie zu vernichten, richtete sich zu allen Zeiten und richtet sich noch heute gegen das jüdische und christliche Glaubensbekenntnis, dass der Gott des Himmels und der Erde, der Schöpfer des Lebens, Israel als „sein Eigentum … vor allen Völkern“ (2. Buch Mose, Kap. 19, V. 5) erwählt hat.   

Der Versöhnungsweg in die Ukraine – 20.-28. August 2024

33 Christen und messianische Juden aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, der Ukraine, der Schweiz und Deutschland sind vom 20. bis 28. August 2024 von Šahy (Slowakei) nach Kamjanez-Podilskyj (Ukraine) gereist. Der Versöhnungsweg hat sie auf die Spuren der Juden geführt, die 1941 aus Polen, der Slowakei und Ungarn über Uschgorod (Ukraine) nach Kamjanez-Podilskyj in den Tod getrieben wurden. An jeder Station des Wegs wurde in öffentlichen Gedenkfeiern an die Geschichte dieser jüdischen Opfer erinnert und ihrer gedacht. Die Sünde des Antisemitismus wurde bekannt und die Erwählung Israels als Gottesvolk bestätigt. Zu Beginn und am Schluss beteten wir für Frieden in der Ukraine und ein Ende des Krieges.

Hinter dem Versöhnungsweg stehen Hans-Joachim und Rita Scholz von „S‘ Lamm – Versöhnungsdienste der GGE“ und Pavol Strezo (Slowakei), Vizedirektor von „Toward Jerusalem Council II“ (TJCII) Europa. Sie waren bereits mehrere Male in der Ukraine unterwegs, um mit den Freunden und Partnern dort auszuloten, wie ein Dienst der Versöhnung aussehen kann: Von der Reise im Februar 2023 haben wir täglich berichtet, eine weitere Reise im Juni 2024 diente der Vorbereitung.

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Hans-Joachim Scholz

Hans-Joachim Scholz ist Pfarrer in der badischen Landeskirche und seit Kurzem im Ruhestand. Er und seine Frau Rita leiten den GGE-Dienst „Kirche und Israel“, weil beides für sie unbedingt zusammengehört.

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