50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist die GGE „Versöhnungs-Wege“ gegangen: auch nach Russland, in die Ukraine, ins Baltikum. Und auch wenn heute ein neuer Krieg in Europa tobt: Diese Wege waren nicht vergeblich, sagt Peter Heß, der damals mit dabei war.
50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs reisten Christen aus Deutschland in 23 Länder Europas, um für deutsche Verbrechen stellvertretend um Vergebung zu bitten. Initiiert hatte die Aktion „Versöhnungs-Wege“ der damalige 1. Vorsitzende der GGE, Friedrich Aschoff, mit Fürst Albrecht zu Castell-Castell. Auch nach Russland und in die Ukraine reisten 1995 Gruppen. Peter Heß, Vorstand der GGE Deutschland und Leiter des „Versöhnungs-Wegs“ nach Estland, spricht angesichts des russischen Kriegs in der Ukraine mit Eva Heuser über die Nachhaltigkeit von Versöhnung.
Peter, die „Versöhnungs-Wege“ liegen jetzt mehr als zwei Jahrzehnte zurück. Du warst damals dabei. Wie fing es an? 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs war das Bewusstsein da, dass wir als Christen in die Länder, in denen deutsche Soldaten Gräuel verübt hatten, gehen und um Vergebung bitten sollten. Diese Bitte ist nicht leicht, aber Vergebung zu gewähren ja nicht weniger! Wir bildeten Teams, bereiteten die Reisen vor und wurden in einem Gottesdienst in Erfurt vom damaligen Thüringer Landesbischof Roland Hoffmann und dem katholischen Weihbischof Franziskus Eisenbach ausgesandt. Zuerst aber reisten wir nach Auschwitz, nach Krakau und stellten uns innerlich mit Erschrecken auf die Realität ein. Viele von uns waren ja nach dem Krieg geboren: Wer von uns wusste schon, wie das Grauen von innen aussieht? Es war eine ganz tiefe geistliche Erfahrung, mit Erschütterung und Tränen. Das war der Startschuss.
Wie haben die Menschen in den Gastländern dann auf Euch reagiert? Wir fanden überall in Politik und Kirche ganz offene Türen. Wir hatten ja vorher Kontakte aufgenommen und dann mit den Kirchen und Bürgermeistern vor Ort kleine Gottesdienste gefeiert, wo wir unsere Bitte um Vergebung ausdrücken konnten. Es war große Dankbarkeit da und wir spürten atmosphärisch, dass Gott sich zu dem Vorhaben stellte. Der Himmel war in den Begegnungen so offen, das war beeindruckend. Herzen sind berührt worden, Menschen haben geweint, wir haben in leuchtende Gesichter geblickt. Vergebung und Versöhnung sind eine Wohltat … Es war eine Handlung im geistlichen Raum, aus der Perspektive der Erlösung Jesu. Andere Prozesse im politischen Raum – Willy Brandts Kniefall in Warschau oder François Mitterrands Handschlag mit Helmut Kohl in Verdun – sind nicht weniger gültige Vollzüge; beides sind wesentliche Schritte, die uns heute noch tragen.
Aber heute haben wir wieder Krieg in Europa. Wo stößt die Völkerversöhnung an Grenzen? Mich erschreckt, was es in der Geschichte, auch über das „Dritte Reich“ hinaus, an kriegerischen Auseinandersetzungen gab und gibt. Als ob wir nicht lernen wollen! Für die Menschen in der Ukraine kommt das ganze Grauen jetzt wieder hoch und wird verschlimmert. Wir wissen aber nicht, welche Auswirkungen es gehabt hätte, wenn wir die „Versöhnungs-Wege“ damals nicht gegangen wären. Versöhnungswege sind nie vergeblich! Sie wirken tiefer und weitreichender, als wir vermuten. Allerdings ist Vergebung kein Habitus und man kann sie nicht einwecken.
Wird es nach dem russischen Krieg in der Ukraine also neue Versöhnungswege geben müssen? An Vergebung und Versöhnung muss man immer wieder festhalten – und wenn wieder Schuld geschieht, braucht es wieder neue Wege der Versöhnung. Wenn es in diesem Krieg zur Konsolidierung kommt, werden auch hier Christen einen langen Weg gehen, einen geistlichen Prozess der Buße und Vergebung durchlaufen müssen. Sie werden Schmerzen aushalten, Verhärtungen barmherzig verstehen müssen. – Putin ruft in mir auch Wut hervor! Alle sündhaften Neigungen kommen da in mir hoch. Was da in der Ukraine an Wunden gerissen wird durch das nochmalige Erleben des Krieges und der Gräuel! Wir kommen aus dem Prozess, das Erbarmen Gottes und Heilung zu erflehen, nicht heraus. Das ist aber nur die eine Seite: Zusätzlich werden Prozesse des Wohltuns und Wohlwollens, der Zuwendung in praktischer, sozialer, liebevoller Weise unumgänglich, unendlich nötig sein.
Was die Bitte um Vergebung nun aber für Inhalte haben müsste (da wir den Krieg nicht vom Zaun gebrochen haben, aber in den politischen Prozessen vielleicht unzureichende Einsicht hatten, sodass es dazu kommen konnte), muss sich noch zeigen. Ob sich Christen aus Russland aufmachen werden, liegt nicht in unserer Hand.
Wie beurteilst Du die Rolle der russischen Christen? Teilweise beklagen ukrainische Christen bitter, dass ihre russischen Glaubensgeschwister zum Krieg schweigen würden. Da kann ich mich vielleicht durch meine eigene Biografie – 40 Jahre DDR – ein bisschen hineinversetzen, auch wenn es für mich nicht so dramatisch und bedrückend war. Anders als bei uns früher im Osten aber ist die russisch-orthodoxe Kirche mit der Macht verquickt, schon im Zarenreich, bis heute zu Putin. Dass der Patriarch von Moskau den politischen Prozess nicht infrage stellt, ist vielleicht die Spätwirkung einer langen Geschichte von gefährlicher mentaler, religiöser und politischer Verquickung. Das macht alles geistlich so schwierig, was die orthodoxe Kirche betrifft. Für alle Christen aber gilt: In einem solchen repressiven System zu leben, existenziell bedroht zu sein, braucht unendlichen Mut, Mut zum Martyrium! Da sollte man von ukrainischer Seite auch vorsichtig sein und nicht zu schnell Anklage erheben. Außerdem werden die Leute in Russland dumm gehalten, es ist psychologische Kriegs- und Machtwerbung übelster, aber gekonntester Art. Die Leute sind wie „geimpft“ – was das ausmacht, über Jahrzehnte, das kann man sich gar nicht richtig vorstellen.
„Versöhnungs-Wege“ „Dürfen wir das Wort aus 2. Chronik 7,14 auch für unser Volk in Anspruch nehmen? Dort heißt es: ,Wenn mein Volk, über das mein Name genannt ist, sich demütigt, dass sie beten und mein Angesicht suchen und sich von ihren bösen Wegen bekehren, so will ich vom Himmel her hören und ihre Sünde vergeben und ihr Land heilen.’ So viel war für uns sicher: Das 50. Jahr nach Kriegsende, das am 8. Mai 1994 beginnen würde, sollte noch einmal zum Anlass genommen werden, die Völker um Vergebung zu bitten, die von Deutschland überfallen worden waren.“ So beschreibt Friedrich Aschoff, damals Pfarrer in Kaufering und 1. Vorsitzender der GGE, die Beweggründe für die Aktion „Versöhnungs-Wege“. Im Februar 1994 reiste eine Delegation nach Auschwitz. Dort verstärkte sich der Impuls: Die „Versöhnungs-Wege“ wurden mit Fürst Albrecht zu Castell-Castell, dem Mainzer Weihbischof Dr. Franziskus Eisenbach und Dr. Karl-Heinz Michel von der Jesus-Bruderschaft Gnadenthal (+2006) ins Leben gerufen. 1994, 1995 und 2001 wurden mehr als 30 „Versöhnungs-Wege“ in 23 Länder Europas gegangen, darunter Polen, Frankreich, Russland, Italien, Griechenland, Estland. Insgesamt nahmen mehr als 600 Personen daran teil. Quelle: Friedrich Aschoff, Hinterher gesehen. GGE-Verlag, Hamburg 2004 (nur antiquarisch erhältlich).
Wunderbar, diese Segenslinien!
Die nächste Generation kann auf vorbereiteten Wegen gehen …
Bleiben wir dran, „bis über uns ausgegossen wird der Geist aus der Höhe. Dann wird … das Werk der Gerechtigkeit Friede sein“ (Jesaja 32,15-17)!