Der horizontale Balken des Kreuzes Christi steht für die Versöhnung zwischen uns Menschen – unverzichtbar! Doch viele vergessen dabei die vertikale Dimension, sagt Swen Schönheit: die Versöhnung mit dem ewigen Gott.
Es war bei einem Pfarrkonvent kurz nach dem verheerenden Tsunami im Indischen Ozean, der zum Jahresende 2004 über 200.000 Menschenleben kostete. „Unsere gesamte Theologie wurde weggespült“, meinte einer meiner Kollegen, während wir das Geschehene reflektierten. Inzwischen erleben wir in Deutschland Fluten von neuem Ausmaß. Kleine Nebenflüsse haben vor wenigen Wochen mehr als 180 Menschen sintflutartig in den Tod gerissen. Müssen wir jedes Mal unsere Theologie ändern? Gibt es überhaupt von Gott her etwas zu sagen angesichts von Naturgewalten und sinnloser Zerstörung?
Unverzichtbar: Der mitfühlende Gott
„Gott ist mittendrin“, mit diesem Satz endete das Handlettering-Kunstwerk, das Katharina Hailom während des Gebetskonzerts „Hoffnungsschimmer 21“ für die Opfer der Flutkatastrophe am 28. Juli erstellte. Christen unterschiedlicher Couleur kamen hier zusammen. Inzwischen scheint es Konsens unter den meisten Christen zu sein, dass wir mit einem mitfühlenden Gott rechnen, der auf der Seite der Schwachen steht. Der berührt ist vom Schmerz dieser Welt. Der sich „mit den Gottlosen und Gottverlassenen identifiziert“, wie es Jürgen Moltmann 1972 in seinem wegweisenden Buch „Der gekreuzigte Gott“ ausdrückte.
Christliches Mitgefühl entspringt dem Kreuz
Tatsächlich steht der provokante Titel für eine veränderte Sichtweise auf das Kreuz, die in der Reformation so noch kaum angelegt war: Im Leiden und Sterben seines Sohnes zeigt sich der Gott der Bibel als der mitfühlende, „sympathische“ Gott. Wenn wir als Christen mit Empathie reagieren, wenn wir anderen Menschen in ihrem Leid nahe sind, hat dies seinen Ursprung im Leiden des Gekreuzigten.
Hier stellt sich Gott endgültig auf unsere Ebene, wie es auch der Philipperbrief beschreibt: „Habt im Umgang miteinander stets vor Augen, was für einen Maßstab Jesus Christus gesetzt hat: Er war in allem Gott gleich, und doch hielt er nicht gierig daran fest, so wie Gott zu sein. Er gab alle seine Vorrechte auf und wurde einem Sklaven gleich. Er wurde ein Mensch in dieser Welt und teilte das Leben der Menschen. Im Gehorsam gegen Gott erniedrigte er sich so tief, dass er sogar den Tod auf sich nahm, ja, den Verbrechertod am Kreuz“ (Kap. 2, Verse 5-8; Gute Nachricht Bibel).
Wo bleibt die Botschaft von der Erlösung?
Aber geht darüber nicht ein anderer Aspekt verloren, der für die Briefe des Neuen Testaments zentral war? Paulus war sich wohl bewusst, dass die Botschaft vom Kreuz für die Juden „eine Gotteslästerung“ und für die Griechen „barer Unsinn“ sein musste. Doch für ihn lag, seit er zum Glauben an den Messias Jesus gekommen war, gerade darin „Gottes Kraft“ und „Gottes Weisheit“ (1. Brief an die Korinther, Kap. 1, Verse 18-24).
Martin Luther rückte wieder ins Zentrum, was für die Kirche zu allen Zeiten zentral bleiben muss: Der Glaube an die Gnade Gottes, die sich im gekreuzigten und auferstandenen Christus zeigt. Im Kleinen Katechismus (1529) formulierte der Reformator die Gewissheit, dass Jesus Christus „mich verlorenen und verdammten Menschen erlöst hat … von allen Sünden, vom Tod und der Gewalt des Teufels … mit seinem heiligen teuren Blut.“ Nach 500 Jahren stellt sich die Frage: Steht diese Überzeugung der Reformation heute noch im Zentrum evangelischer Verkündigung?
Kirche muss mehr sein als eine „Agentur der Mitmenschlichkeit“
Besonders während der Pandemie waren die Äußerungen von führenden Kirchenvertretern primär von der Sprache der Betroffenheit geprägt. Man fühle mit und sei den Menschen nahe. Und man appellierte an das Verständnis füreinander.
Die Botschaft von der Hoffnung auf das ewige Leben war jedoch kaum zu vernehmen. Der gekreuzigte und auferstandene Christus als „Heiland“ in Krankheits- und Todesnot? Fehlanzeige. Katholischen Bischöfen scheint es immer noch leichter zu fallen, wenigsten den Namen Jesus zu erwähnen. Doch die „Botschaft vom Kreuz“ ist im Raum der Kirche verblasst. Damit verliert sich „Gottes Kraft“ und Kirche reduziert sich selbst zu einer Agentur der Mitmenschlichkeit.
Brauchen wir Gott denn nur noch für dieses Leben?
Die Bibel lehrt, dass es Größeres gibt als das irdische Leben und Gesundheit. Dass wir mit dem Abschied von dieser Erde vor dem lebendigen Gott stehen werden. Dass Christus wiederkommen wird, „zu richten die Toten und Lebenden“, wie wir es im Glaubensbekenntnis beten. Aber wird noch geglaubt, dass Jesus uns durch sein Sterben am Kreuz „vor dem Zorn Gottes rettet“ (Brief an die Römer Kap. 5, Vers 9)? Im Römerbrief, dem großen Impulsgeber der Reformation, spricht Paulus gleich zehnmal vom „Zorn“ Gottes … aber das passt nicht in die Zeit: Wir wollen den mitfühlenden Gott. Nicht den gerechten Gott, der seinen Sohn an unserer Stelle in den Tod gibt, um uns zu retten von der Sünde, der tödlichen Krankheit, die uns das ewige Leben verfehlen lässt.
„Jesus ist nicht für uns gestorben, sondern Jesus hat für uns gelebt“, erklärte der Theologe Klaus-Peter Jörns 2009 im Deutschlandfunk zu seinem Buch „Notwendige Abschiede“. Der Zuspruch im Abendmahl „Christi Blut für dich vergossen!“ wird somit zur leeren Formel.
Das Kreuz ist auch heute anstößig
Sicherlich steht solch eine zugespitzte Ansicht nicht für den kirchlichen Konsens, aber die Richtung ist klar: Das Kreuz wirkt auch für uns heute anstößig wie zur Zeit des Neuen Testaments. Als Paulus im Brief an die Philipper von den „Feinden des Kreuzes Christi“ schrieb, liefen ihm die Tränen übers Gesicht (Kap. 3, Vers 18). Würden ihm auch heute die Tränen kommen, wenn er sich im Raum der Kirche umhörte?
Wir brauchen das ganze Kreuz!
Dieses merkwürdige Symbol, von dem schon der römische Dichter Cicero sagte, man sollte es am besten nicht einmal erwähnen, enthält eine Menge Weisheit. Zwei Balken, die sich kreuzen, kann jedes Kind malen. Später lernt es den entscheidenden Unterschied zwischen minus und plus. Gott setzt uns „vom Minus ins Plus“ – und das gratis, aus lauter Gnade!
Wir brauchen beide Dimensionen: die vertikale und die horizontale. Auf der einen Seite stellt Jesus durch seinen Opfertod die Gemeinschaft mit Gott wieder her. Wir empfangen Vergebung, werden „für gerecht erklärt“ und finden „Frieden mit Gott“ (Brief an die Römer Kap. 5, Vers 1). Auf der anderen Seite geht vom Kreuz die Kraft zur Versöhnung aus: Gott verbindet Menschen, die sonst nicht zusammenkommen würden.
Beide Achsen sind entscheidend für unser Leben! Wenn das Kreuz zerlegt wird, verliert es seine Kraft. Doch für alle, die es als Ganzes nehmen, entfaltet es Gottes Kraft und Gottes Weisheit.
Herzlichen Dank! Unsere Kirchen benötigen immer wieder die Besinnung auf dieses Rechtfertigungsgeschehen, ansonsten ergehen wir uns in den Kirchen nur noch auf der horizontalen Ebene. Aber selbst da ist für mich die Frage, wie tief die Mitmenschlichkeit wirklich und wahrhaft geht. An dieser Stelle zeigt es sich, dass unsere Verkündigung in vielen Gemeinden im Argen liegt. Es kommt eben nicht gut an, einen Gott zu verkünden, der an uns auch (berechtigte) Ansprüche stellt. Wir verkünden tatsächlich oftmals in den Landeskirchen nur noch die billige Gnade, auch ich konnte (und kann) mich nicht davon freisprechen. Deshalb „Danke“ für Ihren Beitrag 👏🙏😊
Danke für Ihre ermutigende Rückmeldung!
Es ist in der Tat die „teure Gnade“ (Bonhoeffer), wie sie sich in der Hingabe Christi am Kreuz zeigt, die uns freispricht, uns von unserer Selbstbezogenheit erlöst und uns am Ende befähigt, auch gnädig mit uns selbst umzugehen.
Herzliche Grüße und Gottes Segen! – Swen Schönheit