War das Reformationsjubiläum „Vitaminstoß“ oder „Feier theologischer Harmlosigkeit“? Wovon lässt sich die Evangelische Kirche heute leiten?, fragt Swen Schönheit.
Das Reformationsjubiläum 2017 wurde von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aufwändig vorbereitet und gefeiert. Doch die Bilanz fällt zwiespältig aus: Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm erlebte es als einen „Vitaminstoß“ für die geistliche Erneuerung der Kirche. Andere beklagten, dass „ausgerechnet das Reformationsjubiläum an allen Fronten zur großen Feier ihrer theologischen Harmlosigkeit“ wurde, so die Berliner Theologieprofessorin Dorothea Wendebourg. „Wo hört die heute Kirche hin?“ Das frage ich mich besonders mit Blick auf die EKD.
Kirche lebt aus dem Wort Gottes
Die entscheidende Errungenschaft der Reformation war die Rückkehr zur Heiligen Schrift als Grundlage des christlichen Glaubens. Nicht der Überbau der kirchlichen Hierarchie oder theologische Gelehrsamkeit dürfen zur letzten Instanz werden, sondern allein das lebendige Wort Gottes. Die „Laien“ wurden in den Stand von mündigen Bibellesern versetzt.
Martin Luther betonte, dass die Kirche Jesu Christi vom Hören auf Gottes Wort lebt und bezeichnete sie ihrem Wesen nach als „Geschöpf des Wortes“. Also muss sie beide Ohren offen halten: zu Gott hin und zu den Menschen! Dies ist Urgestein der Reformation. Wo haben wir unsere Ohren heute – als institutionelle Kirche und in unseren Gemeinden?
„Nah bei den Menschen“ sein
In ihrer Reformschrift „Kirche der Freiheit“ (2006) formulierte die EKD folgende Vision: „2030 ist die evangelische Kirche nahe bei den Menschen …“ Inzwischen erleben die beiden Großkirchen einen zahlenmäßigen Abbruch von historischem Ausmaß. Der gesellschaftliche Relevanzverlust von „Kirche“ ist mit den Händen zu greifen. Dennoch bleibt der Anspruch: Als Kirche sind wir den Menschen nahe. Wir werden in unserer Gesellschaft gehört.
Seit meiner Ordination 1986 bis heute erkenne ich einen „Mentalitätswechsel“. Wenn ich heute kirchenleitenden Persönlichkeiten begegne, erlebe ich eine hörende, interessierte, neugierige Haltung. Das Machtgehabe früherer Generationen schwindet. Die Kirche hat viel von ihrem Selbstbewusstsein verloren, es ist geradezu Verunsicherung zu spüren. Darin liegt sicher auch eine Chance.
Dass wir uns bemühen „möglichst alle mitzunehmen“, ist mittlerweile Konsens. Allerdings: Damit bleibt auch vieles in der Schwebe. Aussagen der Amtskirche lassen zunehmend klare Konturen vermissen, sie wirken auf Außenstehende verschwommen oder „verschwurbelt“, wie es Erik Flügge in „Der Jargon der Betroffenheit“ (2016) nennt. Man fragt sich, ob das gewollt ist. Fürchten die Kirchenleitenden klare Ansagen, um Abgrenzung zu vermeiden?
Die Stimme der enttäuschten und distanzierten
Selten komme ich Menschen in kurzer Zeit so nahe wie bei Gesprächen rund um Taufe, Trauung, Beerdigung. Dabei frage ich oft, wann und weshalb der Bezug zur Kirche verloren gegangen ist. Häufig gehören zur Biografie Brüche, die mit verletzenden Erfahrungen zu tun haben. Wenn Menschen Leid und Schmerz durchmachen und Kirche dann als formalistisch oder gefühllos erleben, gehen sie oftmals für Jahrzehnte auf Distanz. Wenn wir als Kirche den „Gott des Trostes“ und den „Gott des Friedens“ nicht vermitteln können (Röm 15,5.33), haben wir ausgedient!
2019 haben sich in Deutschland über 540.000 Menschen von den beiden großen Kirchen verabschiedet. Kirchenmitglieder in der Größenordnung einer Stadt wie Wiesbaden gehen allein der EKD verloren und der Trend lässt sich nicht aufhalten! Haben wir als Kirche in all dem noch ein offenes Ohr für die Geschichten derer, die nicht nur Kirchensteuer sparen wollen, sondern im Herzen eine Wunde tragen aufgrund ihrer enttäuschenden Erfahrungen mit uns?
Gottes Weisung ist vom Zeitgeist überlagert
In den letzten Jahren wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass sich in der evangelischen Predigt ein moralisierender Zug, ja eine „neue Gesetzlichkeit“ entwickelt hat. Wir appellieren an die Weltverantwortung unserer Predigthörer, können ihnen aber nicht vermitteln, welche Kraft in einer persönlichen Gottesbeziehung liegt. Wir ziehen keine Konsequenzen aus dem Jesuswort: „Getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen“ (Joh 15,5)!
Wo die Kirche den Schwachen und Entrechteten ihre Stimme gibt, hat sie durchaus die Propheten des Alten Testaments auf ihrer Seite und nimmt den apostolischen Auftrag ernst, „wir sollten an die Armen denken“ (Gal 2,10). Dennoch: In ethischen Fragen geht unsere evangelische Kirche selektiv vor und forciert ihre Lieblingsthemen. Dagegen fasst sie andere „heiße Eisen“ – anders als die katholische Kirche – kaum an!
Bedenken wurden rasch abgetan
Im Jahr 2010 hat die EKD ein neues Dienstrecht verabschiedet, wonach auch „gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften“ im Pfarrdienst möglich sind. Bedenken einer Gruppe von Altbischöfen wurden rasch abgetan. Inzwischen hat eine Landeskirche nach der anderen auch die Trauung von gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglicht. In Berlin wurde auf dem Christopher Street Day 2016 mit einem eigenen Truck der Landeskirche sogleich die „Trauung für alle“ beworben.
Lässt sich unsere Kirche vom Zeitgeist treiben? Wird die Aussage Jesu, er sei nicht gekommen, „um das Gesetz und die Propheten aufzuheben“ (Mt 5,17), lediglich als ein innerjüdischer Disput gedeutet? Mit welchem Recht wird Paulus als Kronzeuge für reformatorisches Denken zitiert, seine ethischen Einschätzungen (wie in Röm 1,26-27) aber als „zeitbedingt“ abgetan? Hören wir Gottes Gebot nur noch selektiv? Die EKD hört in gewisser Weise auch sich selbst nicht mehr! So wurde im EKD-Papier „Mit Spannungen leben“ noch 1996 festgehalten, „dass es keine biblischen Aussagen gibt, die Homosexualität in eine positive Beziehung zum Willen Gottes setzen“ (EKD-Texte 57). 20 Jahre später ist dies vergessen.
Der Umgang mit der Bibel hat sich offenbar dem ethischen Interesse anzupassen. So formuliert der hannoversche Bischof Ralf Meister: „Die Bibel ist nicht einfach Autorität, weil … sie einfach Gottes Wort enthält.“ Vielmehr „kann die Bibel nur noch dann als Autorität anerkannt werden, wenn sie in der individuellen Lebensführung als hilfreich, sinn- und lebenserschließend erfahren wird.“ Doch wer legt fest, ob dies der Fall ist? Wenn die „individuelle Lebensführung“ zum Kriterium wird, ist Schriftauslegung dem Individualismus und dem Relativismus ausgeliefert!
Es wird selektiv wahrgenommen
Natürlich geht es bei der gesellschaftlichen Gleichstellung homosexueller Partnerschaften zu Recht um die Überwindung von Vorurteilen, Ausgrenzung und Diskriminierung. Kirche ist auch auf diesem Gebiet wieder besonders ansprechbar für das Anliegen von Minderheiten. Und es sollte für Gottes Kinder selbstverständlich sein, dass sie sich von jeder Form der Phobie freimachen und jeden Menschen als geliebtes Geschöpf Gottes anerkennen (vgl. Ps 139,14).
Aber der Preis für die kirchliche Gleichstellungsinitiative ist hoch: Unzählige hochverbundene, seit Jahren engagierte Gemeindeglieder fühlen sich in der eigenen Gemeinde nicht mehr beheimatet und gehen den Weg in Freikirchen oder Gemeinschaften. Hört unsere Kirche auch deren Stimme, oder lässt man sie als „Ewiggestrige“ leichtfertig laufen?
Lebensschutz wird ausgeblendet
Auf einem anderen, ethisch brisanten Gebiet ist die EKD auf einem Ohr taub: Umweltschutz und Artenschutz sind populäre Anliegen, doch der Schutz des ungeborenen Lebens scheint kein „evangelisches Thema“ zu sein. Natürlich hält niemand Abtreibung für eine glückliche Lösung. Aber auch hier überwiegen Vorsicht und politisches Kalkül und so will sich von den Kirchenleitenden offenbar niemand die Finger verbrennen. Warum wird die biblische Aussage, dass Gott ein Ohr für den Schrei der Wehrlosen hat und für ihr Recht eintritt, vonseiten der Kirche nicht ebenso auf ungeborene Kinder bezogen (vgl. Ps 9,13; 10,17; 12,6)? Warum werden nicht auch die Ungeborenen unter den „Schwachen“ erwähnt, denen unsere Fürsorge gilt? Wo ist die kirchliche Rückendeckung für engagierte Gemeindeglieder, die den Lebensschutz zu ihrer Aufgabe gemacht haben?
Hören wir auf die Stimmen der Väter und Mütter!
Unsere Kirche hat jedenfalls dazu beigetragen, dass Martin Luther auf allen Kanälen vermarktet wurde. Auch fehlte es nicht an einer kritischen Auseinandersetzung insbesondere mit Luthers düsterer Haltung gegenüber den Juden. Allerdings fiel der Rückgriff auf das reiche Erbe evangelischen Glaubens erstaunlich dünn aus. Als hätte es in 500 Jahren von Luther bis heute nicht eine Fülle an Impulsen zur Erneuerung der Kirche und an Erweckungsbewegungen gegeben.
Wo war der Hinweis auf Johann Hinrich Wichern, der mit seiner flammenden Rede auf dem ersten evangelischen Kirchentag 1848 die Gründung der „Inneren Mission“ auf den Weg brachte? Das war ein klarer Aufruf zu Mission und Evangelisation – Begriffe, um die unsere Kirche bis heute ringt. Wichern sah ferner die Einheit von Gemeindearbeit und Diakonie – genau das hat sich heute auseinandergelebt: „Die Liebe gehört mir wie der Glaube. Die rettende Liebe … muss in der Kirche als eine helle Gottesfackel flammen“.
Bemerkenswert auch die Stimme einer Vera von Trott zu Solz (1906-1991), deren Bruder von den Nazis ermordet wurde: „Die Frohe Botschaft will nicht nur verkündigt, sie will gelebt werden.“ Mitten im Kirchenkampf begann sie christliche Jugendarbeit, nahm Kranke und heimatlose Kinder bei sich auf und gründete eine Kommunität im hessischen Imshausen.
Weichenstellungen für die Zukunft
Wo hört die Kirche hin? Im Hören auf die Stimmen der Väter und Mütter würde uns manches Licht aufgehen hinsichtlich unserer heutigen Herausforderungen. Die Zeit drängt im Blick auf die notwendige Verkleinerung der Institution Kirche. Wird damit eine Profilschärfung einhergehen? Fokussieren wir uns noch einmal auf unser Kerngeschäft, „die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“ (Theologische Erklärung von Barmen 1934)? Oder wird die evangelische Kirche in unserem Land zunehmend zur Randerscheinung, weil sie ihre innere Mitte verloren hat?
Ihr ist vielmehr zu wünschen, dass sie den Rat des früheren Berliner Bischofs und EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber beherzigt: „Der Ansatzpunkt für die Erneuerung der Kirche liegt darin, dass sie ihre eigene Botschaft ernst nimmt.“